Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Ein neues Land ist eines der schönsten und wichtigsten Bücher,
die 2008 in Deutschland erschienen sind.
Bevor der geneigte Leser nun ob dieses vollmundigen Lobes gleich zum Buchhändler
seines Vertrauens eilt, sollte er noch eines wissen: Es handelt sich um
ein Bilderbuch - abgesehen von einer Widmung gibt es in der anrührenden
Geschichte des Mannes, der sein Glück in einem fremden Land sucht,
kein einziges Wort zu lesen. Was hat es dann überhaupt bei Bibliotheka
Phantastika verloren?
Neben der Tatsache (die man ruhig wiederholen kann), daß es eines
der schönsten und wichtigsten Bücher 2008 ist, ist Ein neues
Land auch ein Paradebeispiel dafür, was gute phantastische Literatur
leisten kann: Sie kann uns, indem sie sie in ein neues Gewand kleidet,
Situationen nahebringen, die man anders niemals so intensiv wahrnehmen
würde, denen man sich womöglich sogar entziehen würde -
oder die man aufgrund von äußeren Umständen gar nicht
erst nachvollziehen kann.
In der Verpackung einer phantastischen Geschichte folgt hier jeder Leser
mit dem namenlosen Protagonisten einem universellen Migranten, erlebt,
wie schwer der Abschied von der Familie und von der bedrückend gewordenen,
aber dennoch vertrauten Heimat fällt, und welche Herausforderungen
erst die Einreise und dann der Alltag im neuen Land, mit all den ungewohnten
Gebräuchen, neuer Infrastruktur und neuer Sprache bietet. Wenn der
Auswanderer vor einem Gefährt steht, das er nicht kennt, dann kennen
auch wir es nicht, weil er in ein wahrhaft phantastisches Land gelangt
ist. Schriftzeichen und alltägliche Verrichtungen sind für ihn
wie für uns anfangs unverständlich - und doch wird einem klar,
daß es einem Menschen, der aus einer völlig anderen Umgebung
in unsere schnelllebige, technisierte Welt gelangt, nicht viel anders
ergehen würde.
Mit der Zeit lernt unser Auswanderer-Freund andere Migranten kennen, die
ihn teilweise unterstützen, und an diesen Stellen sind verschiedene
Rückblicke in die Handlung integriert, die zeigen, was die Menschen
jeweils dazu veranlaßt hat, ihre Heimat zu verlassen. Auch dafür
hat Shaun Tan ausdrucksstarke, phantastische Bilder gefunden, die auf
den ersten Blick fremd erscheinen, aber mit universellen Ängsten
arbeiten, so daß sie schnell nachvollziehbar sind. Gerade die Surrealität
der Bilder garantiert, daß man sie verstehen kann - Unterdrückung,
wirtschaftliches Elend, Krieg oder ein allzu aufdringlicher Staat kriechen
einem in vielen Gestalten regelrecht aus den Seiten entgegen, ohne daß
man den Bildern ganz konkrete Ereignisse oder Kulturen zuordnen könnte.
Gerade der Kulturmix, in dem westliche, asiatische und phantastische Elemente
auftauchen, macht jeden zum Fremden und jede Figur zur Projektionsfläche.
Trotz dieser starken Bilder, die ins Exil (aber auch in einen Neuanfang)
münden, überwiegt in Ein neues Land aber klar die hoffnungsvolle,
teils sogar lustig-gelöste und herzerwärmende Stimmung, nicht
zuletzt durch die prominente Rolle, die das neue Haustier des Helden einnimmt.
Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, der Kampf mit der Einsamkeit und
die Anstrengung, sich in der Fremde zurecht zu finden, nagen durchaus
an ihm, doch begegnet er eher wohlmeinenden als gemeinen Zeitgenossen,
und der schwierige Prozeß des Einlebens wird nicht durch die Mitmenschen
erschwert.
So ist das ganze Buch einer Ästhetik verpflichtet, in der Häßliches
und Schmutziges, das man im Rahmen einer solchen Geschichte auch hätte
erzählen können, außen vor bleibt. Spannung und auch schmerzliche
Szenen bietet die Thematik trotzdem ausreichend, vor allem aber unzählige
liebe- und phantasievoll umgesetzte Details, in denen man regelrecht versinken
kann.
Optisch ist Ein neues Land ein wahrer Genuß: Die Bilder,
allesamt in Sepiatönen, sind manchmal surreale Panoramen, manchmal
nahe an einem (opulent gestalteten) Comic, in dem Shaun Tan die Mimik
und Gesten der Figuren ganz meisterhaft einfängt - und einmal kann
man eine Doppelseite mit unterschiedlichen Wolkenbildern bestaunen - ganz
so wie der Held auf seiner langen Schiffsreise. Wenn man alle feinen Nuancen
und leisen Töne mitnehmen will, die in den Bildern stecken und teilweise
eigene Handlungsbögen von Anfang bis Ende aufbauen, sollte man sich
für die Lektüre Zeit nehmen und sich auf eine etwas andere Lesart
einlassen, als es bei einem Roman oder einem Comic der Fall ist, denn
Ein Neues Land funktioniert eher wie ein sorgsam komponierter,
in Einzelmomente zerlegter Film, und ist auch deswegen nicht nur inhaltlich,
sondern auch gestalterisch ein interessanter Hybrid, der sich der Stärken
verschiedener Medien bedient und daraus etwas Neues entstehen läßt.
Es lohnt sich unbedingt, den Bildern die Zeit zu geben, die sie brauchen,
um ihre Wirkung zu entfalten, denn dort wartet eine eloquente Geschichte
mit viel Herz, vielen neuen Erfahrungen und einem von eigenen Vorurteilen
und Interessen unbelasteten Zugang zu einem zutiefst menschlichen Thema.
Ein neues Land ist gewiß nicht der schlechteste Weg, sich
mit dem Thema Migration auseinanderzusetzen oder jemanden an diesen Gegenstand
heranzuführen.
(rezensiert von: mistkaeferl)
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