Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Ken Scholes, inzwischen mit dem Roman Lamentation als Autor von
epischer, post-apokalyptischer Fantasy zu Ehren gekommen, hat seine Karriere
mit dem Schreiben von Kurzgeschichten begonnen. Diese erste Sammlung bietet
einen guten Überblick über die thematische Bandbreite und das
weite Feld von Stilrichtungen dieses ausgesprochen ideenreichen Schriftstellers.
Dabei ziehen sich die Themen Religiosität, Schuld und Mythos quer
durch alle Geschichten und werden mehrfach beleuchtet, und Leser, die
gerne tüfteln, finden reichlich Anspielungen auf historische Persönlichkeiten,
im kulturellen Gedächtnis verankerte Ereignisse und Musik, Literatur
und Film.
Psychologisch fein herausgearbeitete Figuren verankern die Geschichten,
die verschiedenste Spielarten der Phantastik abdecken, in der Realität.
Da lernt man zum Beispiel den Obdachlosen Fearsome Jones kennen, der mit
seiner obsessiven Sammelleidenschaft versucht, über sein eigenes
Versagen hinwegzukommen und dabei etwas aus dem Müll fischt, das
ihn und seine Kumpels in höchste Schwierigkeiten bringt (Fearsome
Jones' Discarded Love Collection).
Oder den einfach gestrickten Trucker Jeb, der mit Hilfe eines geheimnisvollen
Mädchens in der Hölle Erlösung findet, als er erkennt,
daß ein Großteil der Hölle im eigenen Kopf entsteht (So
Sang the Girl Who Had No Name).
Und einen Hibakusha einen traumatisierten Überlebenden der
Atombombenabwürfe auf Japan dessen Weg zurück zu sich
selbst mit Gruppensitzungen und psychologischer Betreuung einerseits in
die Realität Japans nach dem Zweiten Weltkrieg eintaucht, andererseits
in die Welt der japanischen Mythologie und sogar der modernen Mythen über
Japan in der westlichen Welt führt (Hibakusha Dreaming in the
Shadowy Land of Death).
Ein zweiter Besuch in der Hölle aus So Sang the Girl Who Had No
Name präsentiert mit Houdini und William Hope Hodgson zwei prominente
Protagonisten, die eine Queste durch das symbolisch stark aufgeladene
Leben nach dem Tod führt mit den Mitteln und dem Selbstverständnis
zweier Abenteurer des frühen 20. Jahrhunderts (Into the Blank
Where Life is Hurled). Scholes' Hölle mit ihren Monstern, surrealen
Landschaften und einem dennoch routinehaften Alltag kann beispielhaft
dafür stehen, wie geschickt der Autor mit seinen Settings und Ideen
die Aufmerksamkeit des Lesers bindet und seine Neugier immer weiter füttert.
Der Zauberer und der Schriftsteller sind längst nicht die einzigen
historischen Persönlichkeiten, die in den Kurzgeschichten auftreten:
In The Man With The Great Despair Behind His Eyes begegnet man
nicht nur der Expedition zur Pazifik-Küste von Lewis und Clark
die Erzählung ist gespickt mit Anspielungen quer durch die US-Geschichte,
so daß man als Europäer mitunter Wikipedia bemühen muß.
Wiederum mit Gestalten des 20. Jahrhunderts spielt Summer in Paris,
Light from the Sky, die problematischste Geschichte der Sammlung,
in der man das Schicksal von Hemingway, Chaplin und vor allem Hitler in
einer alternativen Realität verfolgt, in der alle drei aufgrund veränderter
äußerer Umstände teils völlig anders verlaufende
Lebenswege einschlagen. Scholes arbeitet hier mit dem stärksten vorstellbaren
Kontrast zur Realität, um zu vermitteln, daß Monster und Heilige
durch Einwirkungen von Außen geschaffen werden das garantiert
der Geschichte eine große Wirkung, verstärkt durch eine Rahmenhandlung,
die aus fiktiven Zitaten besteht, wird aber nicht jedermanns Geschmack
treffen.
Ein, wenn nicht sogar der Höhepunkt der Sammlung ist Edward
Bear and the Very Long Walk, eine Art inverses Winnie-Pu-Abenteuer,
in dem es den Spielzeugbären auf einen fremden Planeten verschlägt
und der Leser Heldentum durch Stoffbären-Augen erfährt. Eine
behutsame Überführung des Kinderbuch-Helden in die Science Fiction,
die klassische Themen des Genres aufgreift und eine anrührende, epische
Queste erzählt, dabei aber dem Stil der originalen Pu-Geschichten
sehr treu bleibt und sie gleichzeitig auf den Kopf stellt. Eine Pflichtlektüre
für alle, die noch ein Kuscheltier besitzen - aber Vorsicht: die
Geschichte geht ans Herz.
Ebenfalls in ganz klassischen SF-Gefilden bewegt sich A Good Hair Day
in Anarchy, das Western und Science Fiction auf eine Weise verbindet,
die auch Fans der Serie Firefly zu schätzen wissen dürften.
Lässiger Humor, ein schräges Setting in den gesetzlosen Außenbezirken
des bewohnten Universums und eine clevere Geschichte machen das Ganovenstückchen
um einen Frisör mit Vergangenheit zu einer runden und sehr vergnüglichen
Lektüre.
Schon in Edward Bear and the Very Long Walk hat Scholes angedeutet,
wie Mythen geboren werden, in The Santaman Cycle treibt er das
Konzept auf die Spitze und beschreibt mit eleganter Hand eine nur lose
im Bestehenden verankerte Schöpfungsgeschichte einer Welt nach einer
Apokalypse. Der epische Ton und die verwendeten Bilder funktionieren erstaunlich
gut nach den lediglich drei Seiten ist man fasziniert von den angerissenen
Geschichten und der Welt, deren verschwommenes Bild sich vor dem inneren
Auge zeigt.
In The Doom of Love in Small Spaces greift Scholes die Mythen aus
dem Santaman Cycle noch einmal auf, erzählt aber eine relativ
hermetische Geschichte, die kaum Episches anklingen läßt, sondern
aufzeigt, daß die Bürokratie mit ziemlicher Sicherheit auch
nach der Apokalypse erhalten bleibt.
In ähnlicher Weise funktioniert Of Metal Men and Scarlet Thread
and Dancing with the Sunrise. Die Geschichte skizziert auf wenig Raum
und mit großartigen Bildern eine Welt, die Scholes inzwischen mit
dem auf diesem Ausschnitt basierenden Zyklus The Psalms of Isaak
weiter erkundet hat. Das Potential der Figuren und der Welt ist auch in
diesem kurzen Streiflicht nicht zu übersehen.
Einen nur leichten bzw. erst im Laufe der Geschichte anwachsenden phantastischen
Einschlag hat sowohl das kurze, eindringliche Soon We Shall All Be
Saunders, eine Parabel über die Entfremdung vom eigenen Selbst
unter den Anforderungen der (Arbeits-)Welt, und That Old-Time Religion,
das konsequent das Bild des zürnenden Gottes aus dem Alten Testament
in eine amerikanische Kleinstadt transportiert.
Richtige Enttäuschungen wird man in Long Walks, Last Flights and
Other Strange Journeys kaum finden, lediglich eine Handvoll Geschichten
sind nicht ganz überzeugend durchkomponiert: So ist zwar Ken Scholes'
Ausflug ins Superhelden-Genre für einige Lacher gut und liefert zumindest
eine überzeugende Grundidee, der Plot jedoch läßt zu wünschen
übrig (Action Team-Ups Number Thirty-Seven), und auch One
Small Step und East of Eden and Just a Bit South, beide mit
Untertönen aus der Schöpfungsgeschichte, wirken nicht ganz überzeugend.
Abgeschlossen wird die Sammlung mit der Erzählung Last Flight
of the Goddess, die vorab auch schon als Kurzroman erschienen war
einer Hommage an das Rollenspiel Dungeons & Dragons
und die unsterbliche Liebe. In Rückblenden verfolgt man den Werdegang
eines Abenteurer-Pärchens und gleichzeitig den Umgang mit dem Verlust
eines Partners. Rollenspieler finden darin einiges zum Schmunzeln, und
auch Fans klassischer Abenteuer-Fantasy dürften durch den warmen
Erzählton, den augenzwinkernden Humor und die schrägen Ideen
auf ihre Kosten kommen, allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren,
daß der Plot nicht über die ganze Länge trägt und
eine Straffung hier und da nicht geschadet hätte.
Die Vielfalt der Geschichten, die Long Walks, Last Flights zu bieten
hat, läßt letzten Endes keine Wünsche offen und zeigt
eindrucksvoll, wie versiert Scholes in seinen Themen ist sowohl
als Chronist epischer, gewaltiger Ereignisse als auch als Beobachter des
Zwischenmenschlichen und der seelischen Vorgänge. Besonders empfehlenswert
ist darüber hinaus das Nachwort zur Entstehungsgeschichte der einzelnen
Werke, das die Geschichten gut ergänzt und eine sprühende Kreativität
durchblicken läßt, die beinahe ansteckend wirkt. Idee und Umsetzung
sind fast durchgängig gleichermaßen gelungen, so daß
man sich auf weitere Geschichten aus Scholes' Feder nur freuen kann
er ist ein Meister dieses Fachs.
(rezensiert von: mistkaeferl)
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