Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Die Geschichte beginnt im mittleren 12. Jh. und endet im frühen 13.
Jh. Baudolino stammt aus Norditalien und die italienischen Städte
spielen eine große Rolle, denn immer wieder muß Friedrich
Krieg gegen sie führen um sie botmäßig zu machen. Doch
auch in Paris und dem byzantinischen Konstantinopel geschehen bedeutsame
Ereignisse. Die Mentalität und Kultur der verschiedenen Menschen
sind überaus bedeutsam für ihr Verhalten und dazu angemessen
umgesetzt. Manchmal ergeht sich Eco allerdings in Details, die etwas ermüdend
wirken können, so wenn er etwas zum wiederholten Mal ausführlich
schildert, mit welchen Genüssen Niketas seinen Gaumen erfreut.
Es gibt unzählige Figuren, denen in sehr unterschiedlichen Maße
Bedeutung zukommt. Im Zentrum steht Baudolino, es gibt kein Kapitel, in
dem es nicht um ihn geht. Zu Beginn ist er ein junger Bauernsohn aus der
Frascheta. Zwei Dinge zeichnen ihn aus: Eine große Anpassungs- und
Lernfähigkeit zum Einen, so ist er z.B. dazu in der Lage eine Fremdsprache
zu erlernen, wenn er sie eine zeitlang hören kann, und zum Anderen
eine große Fabulierlust gepaart mit viel Überzeugungskraft
- er weiß immer die richtige Lüge zum richtigen Zeitpunkt,
ob dieses nun durch List oder Fälschung oder sonst eine Täuschung
zum Ausdruck gebracht wird. Doch er ist nicht selbstsüchtig und scheut
Gewalt, seine Lügen dienen immer irgendeinem selbstlosen Zweck (sagt
er). Am Ende ist er schließlich eine alter Mann, der auf die Erfolge
und Fehlschläge in seinem Leben zurückblickt. Eine weitere grundlegend
wichtige Figur ist der byzantinische Chronist Niketas Choniates, dem Baudolino
seine Geschichte erzählt. Die beiden sind die einzigen, über
deren Gedanken der Leser etwas aus erster Hand erfährt, über
die Ansichten und Motive aller anderen muß gemutmaßt werden
(selbst, wenn diese sie deutlich vernehmlich verkünden). Dennoch
sind die anderen keineswegs flache Figuren, sie sind alle plausibel und
lebendig geschildert, im Laufe der Jahre merkt man ihnen sogar mehr oder
weniger stark einen Wandel an. Um nur ein paar zu erwähnen, seien
hier einige der wichtigsten Figuren genannt: der Poet, ein deutscher Adliger,
dessen Name in Vergessenheit geriet, er ist machthungrig und sein Appetit
steigert sich im Laufe der Zeit; Abdul, Kind eines in der Levante lebenden
Provinzialen und einer Irin, der ein begnadeter Sänger ist, er ist
auf der Suche nach einer fernen, illusionären Liebe; Zosimos, ein
griechischer Mönch, der vielleicht ein noch besserer Lügner
als Baudolino ist, er weiss am Ende seinen Vorteil aus jeder Situation
zu schlagen; und natürlich Baudolinos Adoptivvater Kaiser Friedrich,
der seinen Sohn für dessen Offenheit schätzt und das Kaiserreich
stark und würdig halten muß.
Später begibt sich Baudolino auf die Suche nach dem Reich des Priester
Johannes, ein sagenhaftes, mächtiges, christliches Königreich
weit im Osten. Auf dem Weg dorthin wird es immer phantastischer, er begegnet
Kannibalen, Chimären, Mantikoren, muß einen reißenden
Strom aus Steinen überqueren, der nur am Sabbat stillsteht, und die
Finsternis von Abkasia durchstehen. Er begegnet den Monstren, Menschen
mit einem Bein, Menschen ohne Kopf, Menschen mit dem Penis an der Brust
und einigen Absonderlichkeiten mehr. Die magischen Elemente sind unterschiedlichen
Quellen entnommen, wie Isidor von Sevillas Kompilation antiker Berichte
über Indien und Umgebung oder Marco Polos Reisebericht, der phantastische
Lügen einflechten mußte, damit seine wahren Teile geglaubt
wurden. Die mit den Kranichen im Krieg liegenden Pygmäen tauchten
schon in Homers Ilias drittem Gesang auf. Wer groteske und bizarre Wesen
und Orte schätzt, der kommt hier auf seine Kosten.
Es werden mehrere Geschichten zugleich erzählt. Zunächst liest
man von Baudolino, der den Chronisten Niketas aus der Hand von wütenden,
plündernden Kreuzfahrern rettet, die 1204 n. Chr. die christliche
Stadt Konstantinopel für die Venezianer erobern und plündern,
um Schulden zahlen zu können. Dem Niketas nun erzählt Baudolino
seine Lebensgeschichte. Man erfährt von seiner Heimat, wie er von
Friedrich adoptiert wurde, wie er in Paris studiert und wie er immer wieder
versucht dem Kaiser, der seine Größe in einem provinziellem
Kleinkrieg mit den italienischen Städten zu verlieren droht, mit
Lügen zu helfen. Man liest von Baudolinos Liebe und seinen Freundschaften.
In diese Schilderung geschickt verpackt ist ein farbenfrohes Sittengemälde,
das versucht die Mentalität, die auf den modernen Menschen zunächst
bigott wirkt, verständlich zu machen. Der für Freunde der Phantastik
interessante Teil befaßt sich mit Fälschungen von Dokumenten
und dem Reisebericht. Baudolino schreibt einen Brief von Priester Johannes
an Kaiser Friedrich, in dem er die Wunder seines Landes beschreibt. Doch
niemand sieht dieses als Fälschung - das Land gibt es ja wirklich,
sonst hätten so große Autoritäten nicht davon berichtet,
und wenn der Priester vom Kaiser wüßte, dann würde er
ihm schreiben. Daher verwirklicht man nur, was sowieso wahr ist. Es ist
eine Verschwörungsgeschichte (und hat z.T. Ähnlichkeit mit Ecos
Buch Das Foucaultsche Pendel), es ist Pseudo-Historisch, denn einige
Ereignisse werden neu ausgelegt, und es ist Historische Fantasy/Mythische
Fantasy - alles soweit der Leser dem Lügner Baudolino zugesteht,
die Wahrheit zu sagen. Hier liegt der Reiz der Geschichte, man könnte
leicht dem Chronisten Niketas folgen und alles für eine Lügengeschichte
halten - doch der Leser weiß mit Sicherheit nur, daß Niketas
lügt, ob Baudolino Niketas belügt, weiß er nicht.
Baudolino ist vom Stil her nicht besonders ästhetisch, aber Eco (und
seinem Übersetzer) gelingt es, eine perfekte Mischung zwischen mittelalterlichem
Sprachduktus und moderner Sprache zu finden, es gelingt ihm, allen Figuren
einen eigenen, angemessenen Sprachstil zu verleihen, auch wenn die Unterschiede
nicht immer sofort deutlich werden.
(rezensiert von: Theophagos)
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