Worum's geht:
Als die letzte Tochter der
Königin Amelyor auf dem Meer stirbt, scheint ihr Volk verloren: Sobald
die Königin mit dem Alter die Gabe verliert, mit den Meeressäugern
zu kommunizieren, die die Schiffe der Fischer beschützen, wird das
Meer sie alle fordern, da nun kein weiblicher Nachfolger der Königin
mehr vorhanden ist. Verzweifelt gesteht Amelyor ihrem Sohn Keiris eine
längst vergangene Affäre mit einem Fremden ein, aus der eine
weitere Tochter hervorgegangen ist - Keiris' Zwillingsschwester, die aber
nach der Geburt vom Vater entführt wurde und seither verschollen
ist. Mit wenigen Anhaltspunkten macht sich Keiris auf den Weg nach Norden,
um seine Schwester zu finden und damit sein Volk zu retten. Auf der Suche
nach seinem mysteriösem Vater, einem Mann, der das Meer und die Freiheit
geliebt hat, stößt er auf Gerüchte über ein im Meer
lebendes Nomadenvolk. Und so muß er sich seiner größten
Angst stellen - dem Ozean, der ihm seine Schwester entrissen hat und fremde,
furchteinflößende Lebewesen beherbergen soll ...
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Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Auf der Suche nach kleinen Geschichten, die ohne Bombast, Weltrettung
und epische Ausmaße auskommen, landet man schnell bei Schriftstellern
wie Patricia McKillip, Peter S. Beagle oder Ursula K. LeGuin allesamt
Autoren, die den Zenit ihrer Beliebtheit wohl bereits überschritten
haben und eher nicht an prominenter Stelle in der Fantasy-Ecke der Buchhandlung
präsentiert werden. Nach überschaubaren Geschichten, in denen
eher etwas in den Charakteren als in der Welt in Bewegung gesetzt wird,
wühlt man am besten in der Literatur vergangener Dekaden.
Einen besonders delikaten kleinen Happen aus den 80ern stellt Drowntide
dar, eine Geschichte, die in eine Meereswelt voller kleiner Inseln führt
und ganz und gar auf den jungen Keiris ausgerichtet ist, der seine Wurzeln
und seine verschollene Schwester sucht. Diese Suche anfangs eine
klassische Queste, wenn der Held sich auf Wanderschaft begeben muß,
um sein eigenes Volk zu retten, das ohne weiblichen Abkömmling der
Herrscherfamilie dem Meer schutzlos ausgeliefert sein wird - bringt ihn
viel näher an das von ihm gefürchtete Meer, als er je geglaubt
hätte, und konfrontiert ihn mit allen Ängsten und Vorurteilen,
die er sich in seinem kurzen Leben bereits angehäuft hat. Damit ist
Drowntide auch ein Entwicklungsroman, der in inhaltlichen Belangen
im ersten Teil tatsächlich anderer Fantasy mit jungen Protagonisten
sehr stark ähnelt.
Allerdings springt rasch der wahrhaft familiäre Rahmen der Geschichte
ins Auge, der bis zum Ende beibehalten wird, ohne daß die Autorin
der Versuchung nachgibt, ihn zu etwas Größerem aufzublasen.
Die Ereignisse betreffen hauptsächlich die vorgestellten Charaktere,
die Umwälzungen finden in ihrem Inneren statt, denn sobald die Suche
von Keiris beendet ist, stellt ihn der verschollene Teil seiner Familie
vor viel größere Herausforderungen.
Trotzdem weht die Ahnung von Größerem durch das Buch
eine Folge der ungewöhnlichen, mit Vergangenem angereicherten Welt:
Ein vom Meer abhängiges Fischervolk lebt auf den kleinen, stets vom
Wasser bedrohten Inseln, ihre Geschichten rufen unweigerlich den Atlantis-Mythos
ins Gedächtnis, und sowohl die Namen als auch die Naturbeschreibungen
legen eine Verortung des Geschehens zu mythischen Zeiten im Mittelmeerraum
nahe. Aber weit gefehlt und an dieser Stelle hat die Autorin leider
auch etwas zu viel in ihre Weltschöpfung gepackt: Ihr kurzer Ausflug
in die SF, der das Setting im Lost Colonies-Motiv verankert, wirkt reichlich
aufgesetzt und deplaziert, da der Hintergrund um den Einbruch des Fremden
in die Welt der Fischer und Bootsbauer auch ohne das SF-Element hervorragend
funktioniert hätte. Dieser erklärende Einschub betrifft aber
gerade einmal ein paar Absätze der Geschichte, wirkt sich kaum weiter
aus und kann auch getrost ignoriert werden.
Man erlebt das Geschehen komplett aus der Sicht des jungen Keiris, und
seine Ängste vor der unbekannten Herkunft und seine Schwierigkeiten,
diesen Teil seines Erbes schließlich anzunehmen, sind anrührend
und authentisch beschrieben. Andere Charaktere sind eher angezeichnet
und bleiben durch die Fokussierung auf den Hauptcharakter teilweise sehr
blass. Während am Rande auch Platz für eine muntere, nur zart
ins Spiel gebrachte Liebesgeschichte ist, steht im Mittelpunkt immer das
Ausloten der familiären Verhältnisse und die Akzeptanz neuer
Aspekte am eigenen Ich.
Mit recht wenig Aufwand wird die Wasserwelt in Szene gesetzt, aber gerade
auch die angedeutete Liebesgeschichte in ihrer Ungewöhnlichkeit und
etliche andere Details lassen doch ein lebendiges Bild der drei auftretenden
Kulturen entstehen, wobei immer nur das für die Geschichte Notwendige
ausgearbeitet scheint.
Ein weiteres zentrales Element sind die sea mams, die Meeressäugetiere,
die hier die Gefährten der Menschen darstellen und die hilfreiche
und freundliche Seite des Meeres repräsentieren. Die Kommunikation
mit den Walen ist auch ein Schlüsselelement der Handlung und erinnert
heute an die Entstehungszeit der Geschichte in den 80ern, als die Wale
zu den Maskottchen des Umweltschutzes wurden.
Die Sprache ist weder so ausgeklügelt noch so poetisch wie bei den
eingangs genannten Autoren, doch die Faszination der Insel- und schließlich
Meereswelt kann durchaus eingefangen und transportiert werden. Das Meer
zweifellos einer der Hauptakteure in diesem Roman bleibt
bis zum Schluß etwas Fremdes, das mit seiner Unberechenbarkeit und
Weite dem Protagonisten stets Überwindung abfordert, und das er höchstens
als Teil seines Lebens akzeptieren und achten lernt, aber nicht lieben.
Trotz der vielen Meeresbewohner, die in Drowntide auftauchen, bleibt
also eine gewisse Scheu vor dem Unbekannten erhalten, und es geht eher
um das Leben mit dem Meer als das Leben im Meer. Ein Stück dieser
Fremde entdeckt der Held Keiris aber auch in seinem Inneren, und die unüberwindbare
Zerrissenheit bekommt am Ende zumindest positive Aspekte und die Möglichkeit
zu einer versöhnlichen Zukunft.
Wenn man also das große Blau schätzt und sich für eine
kleine Geschichte erwärmen kann, die an seinen Ufern spielt, ist
Drowntide eine unbedingte Empfehlung.
(rezensiert von: mistkaeferl)
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