Bewertet mit Sternen
(Besucher-Rezension):
Die bevorstehende Ankunft von Cousin X scheint Sashas Eltern in
einen verschwörerischen und ratlosen Zustand zu versetzen. Sasha
faßt allerdings bald Vertrauen zu dem ruhigen, tagträumerischen
Jungen, der seltsam suggestive Fähigkeiten zu haben scheint. Außerdem
ist da noch sein Interesse, herauszufinden, "wie die Dinge funktionieren".
Eine ungewöhnlich aufgebaute Geschichte, die ich, zumindest im ersten
Teil, fast als literarisches Pendant zu Peter Jacksons Heavenly Creatures
bezeichnen möchte. Hier wie dort schaffen sich zwei Kinder/Jugendliche
eine Phantasiewelt in der sie unbeschwert ihren Spielen nachgehen können,
abgeschottet und geschützt vor den Erwachsenen.
Der zweite Teil der Geschichte - Cousin X und Sasha treffen sich als Erwachsene
auf einer Hochzeit wieder - besteht fast ausschließlich aus dem
sich entspinnenden Dialog der beiden. Quentin Crisp bereitet damit gekonnt
und leise das Feld für den finalen Schrecken.
Zunächst eher durch deren erotische Komponente von Meerjungfrauen
fasziniert, erliegt der Protagonist immer mehr deren Mythos und er wird
zum besessenen Sammler und Spurensucher. Schließlich findet er eine
echte Meerjungfrau am Strand, die er in sein Haus bringt und dort mit
ihr in einer geschlechtslosen, "nichtexistenten Kindheitsliebe"
lebt. Eines Tages eröffnet ihm Die Meerjungfrau, dass durch
ein Ritual "der Schwanz einer Meerjungfrau in menschliche Beine und
Sexualorgane umgewandelt werden kann". Obsession und Verlangen gewinnen
die Oberhand.
Quentin Crisp läßt sich mit dem Aufbau der Geschichte sehr
viel Zeit. Er beschreibt schön die Steigerung der Obsession von unbestimmten
voyeuristischen Neigungen über die Liebhaberei von Unterwäsche
als Verhüllung der weiblichen Scham ("Ich lernte, dass ich sie
um so stimulierender fand, ...wenn ich ganz bewußt vergaß,
was dahintersteckte, und sie als echten Teil des weiblichen Körpers
betrachtete") hin zu bestimmten Kunstwerken ("Der Künstler
hat jedoch keine Behaarung abgebildet und nicht einmal die Andeutung einer
weiblichen Scham") und Photographien, die fast zwangsläufig
weiter zur Glattheit einer Nixe führen. Dennoch herrscht kein sexuelles
Verlangen, als die Meerjungfrau schließlich greifbar ist. Es entwickelt
sich ein anfänglich zaghaftes gegenseitiges Unterrichten in Sprache
und Lebensart bis die finale Verwandlung der Nixe zur Frau in einem Albtraum
endet.
Alle Versuche, den Verfall in dem kürzlich geerbeten Haus aufzuhalten
sind von Mißerfolg gekrönt. Der Verfall kehrt stets
nach kurzer Zeit wieder. Erst als der Hausbewohner sich ihm ergibt, wird
der Verfall zu seinem Beschützer.
Moder, Schimmel, Verfall und Schmutz wird hier als leibhaftiges Lebewesen
dargestellt, dass seinen Platz in dem alten Haus nicht räumen will.
Der Hausbewohner wird letztendlich ein Teil des Verfalls.
Begonnen als eher widerwilliger, nachbarschaftlicher Gefallen, wird aus
den Einkaufsdiensten für den Einsiedler auf dem Hügel schnell
eine Regelmäßigkeit. Neugierig geworden, entdeckt der unfreiwillige
Sozialdiener Bücher in einer fremden Schrift im Kühlschrank
des Einsiedlers. Beim heimlichen Versuch, die Bücher zu lesen, muß
der Eindringling feststellen, dass die Schrift und die Bücher zu
leben scheinen und weit mehr beinhalten, als es den Anschein hat. Auch
Der Einsiedler selbst ist weit mehr, als der zunächst vermutete
verwirrte Exzentriker.
Die Story beginnt sehr stimmungsvoll und vielversprechend. Der Verlauf
wird allerdings immer mystischer. Leider erfährt der Leser nichts
weiter über die Figuren, so dass diese fremd bleiben und auch kein
Identifikationspotenzial besteht.
Echtes Fleisch ist seit dem vernichtenden Krieg schwer zu bekommen. In
einem Forschungszentrum, der Fleischfabrik, wird daher an der Entwicklung
von künstlichen Fleisch gearbeitet. Tatsächlich gelingt es,
sogenanntes Plastifleisch zu züchten. Allerdings entwickelt das Forschungsprodukt
ein erschreckendes Eigenleben.
Die Geschichte beginnt recht vielversprechend mit Shauns Arbeitsantritt
als Pfleger im Forschungszentrum. Zusammen mit ihm lernt der Leser die
Personen und den Zweck der Einrichtung kennen. Leider erweist sich die
Story als inkonsequent und, gegen Ende, ermüdend. Die vorgestellten
Personen tauchen, bis auf eine halbherzige Ausnahme, nicht wieder auf
und auch einige weitere Möglichkeiten der Geschichte versanden leider.
Insgesamt eine Story, die Clive Barker-Fans ansprechen dürfte.
In den Geschichten herrscht stets eine unscharfe Zwielichtstimmung. Man
bewegt sich als Leser eher in einem Phantasiereich, in das Eindrücke
aus der real existierende Welt einegeflochten sind, als umgekehrt. Ausnahme
ist Die Fleischfabrik. Diese Story wirkt kühler und realer.
Bei den Hauptpersonen handelt es sich stets um Einzelgänger, mit
nur geringem, wenn nicht verächtlichem Interesse an ihren Mitmenschen
und der Außenwelt.
Wie seine Figuren geringschätzig auf ihre Umwelt blicken, verweigert
sich Quention Crisp - Absicht oder nicht - gängigen Erzählmustern.
Die einsamen Figuren seiner Geschichten werden nicht unbedingt als Sympathieträger
dargestellt. Dem Leser fällt es schwer, eine Beziehung zu den Personen
aufzubauen. Teilweise werden eingeführte Personen einfach nicht weiter
erwähnt. Auch die mitunter anfänglich eingeschlagene Richtung
der Geschichten weist oftmals in die Irre, siehe Der Einsiedler
die wie eine Gepenstergeschichte wie The Fog-Nebel des Grauens
beginnt und zu einem Besucher aus einer fremden Welt führt.
Die Erwartungen, die der gute und gewissenhafte Storyaufbau von Cousin
X und Die Meerjungfrau (als die beiden besten Geschichten hier)
weckt, werden leider nicht ganz erfüllt. Das Ende ist in beiden Fällen
zu platt und beliebig. Verfall verstehe ich als interessante Stilübung.
Der Einsiedler erweist sich nach anfänglicher Spannung als
zu konfus und ohne befriedigendes Ende. Die Fleischfabrik halte
ich für unausgereift. Eine gründliche Überarbeitung täte
der Geschichte gut. Schade um die gute Prämisse.
Der Titel der Sammlung geht auf eine Zeile aus Poes The Raven zurück.
Aus "Night's Plutonian Shore" wurde nach Übersetzung nicht
"Plutos nächtge Sphär" sondern "Dunkle Gestade"
was ja auch die Stimmung sehr gut trifft. Der Untertitel Aufgesang
läßt vermuten, dass hier noch etwas zu erwarten ist. Angekündigt
ist offiziell allerdings noch nichts.
Bei den meisten der Geschichten handelt es sich um frühe Werke von
Quentin Crisp. Die Fleischfabrik (original: The Meat Factory)
ist sogar eine Welterstveröffentlichung. Das vom Verlag angekündigte
Vorwort von Mark Samuels ist nicht enthalten und leider fehlen auch Angaben
zum Übersetzer und die Originaltitel und Ersterscheinungsinfos der
Geschichten. Das kostet einen halben Stern.
Ansonsten ist dem Blitz-Verlag mal wieder eine (in diesem Preissegment)
mustergültige Veröffentlichung gelungen, die das erste hellere
Licht auf ein neues Talent unter den Phantastikautoren wirft. Man darf
gepannt sein auf weitere, reifere Werke von Quentin S. Crisp.
Das stimmige Covermotiv und die passenden Innenillustrationen zu jeder
Geschichte stammen vom großartigen Mark Freier, der bisher alle
Bände der Reihe illustriert hat.
(rezensiert von: Greyshirt)
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