DIE ABENTEUER IN DER SIERRA MORENA ODER DIE HANDSCHRIFT VON SARAGOSSA

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1 Rezension
Zyklus/Band -
Autor Jan Graf Potocki
Original Le Manuscrit trouvé à Saragosse
Erscheinungsjahr 1847 (Teilveröffentlichung); 1984
Verlag Haffmanns Verlag
ISBN 3-25-120011-9
Subgenre klassische Phantastik
Seitenzahl 940
Probekapitel -
Worum's geht:
Im Jahre 1739 macht sich der junge flämische Edelmann Alfons van Woerden, Sohn eines berühmten Fachmanns für Zweikämpfe und Ehrenhändel, auf den Weg, in die Dienste des Königs von Spanien zu treten. In der Sierra Morena, einer von Vampiren, Räuberbanden, liebeshungrigen Damen und Zigeunerinnen mit nachgesagten kannibalistischen Neigungen bevölkerten Einöde, wird er Zeuge mysteriöser Ereignisse. Er trifft auf Vagabunden, maurische Weise, den Ewigen Juden, wirrköpfige Gelehrte, Don Belial de Gehenna, Überlebenskünstler, frühe Mafiosi und zauberkräftige Kabbalisten, die allesamt voller Geschichten stecken. Alfons lauscht fasziniert und verliert sich in dem Labyrinth der Worte, bis er hinter all den Erzählungen die Umrisse einer gewaltigen Verschwörung erblickt, die mit seiner familiären Herkunft verknüpft ist...

Warum's so gut ist:
Kann ein solcher Roman echt sein? Schon die Umstände seiner Entstehung erinnern an einen geschickt arrangierten Plot, wie er von Umberto Eco oder einem anderen Meister der Postmoderne nicht kunstvoller hätte erdacht werden können: Jan Graf Potocki (1761 - 1815), polnischer Aristokrat, Geheimrat des Zaren und heimlicher Anhänger der französischen Revolution, las seiner schwer erkrankten Frau aus Tausendundeine Nacht vor. Sie äußerte den Wunsch, mehr solche Geschichten zu hören. Der Graf setzte sich ans Schreibpult und las abends vor, was er geschaffen hatte. Nachdem die Gräfin verschieden war, feilte Potocki so lange an einer Silberkugel herum, die er von einem Samowar (ein Familienerbstück) abgebrochen hatte, bis sie in den Lauf seiner Pistole passte, und erschoss sich.
Wahrheit oder Legende? Wir wissen es nicht, doch es ist anzunehmen, dass Graf Potocki es wie jeder gute Geschichtenerzähler verstand, sich in einen Schleier von Geheimnissen zu hüllen. Die Abenteuer in der Sierra Morena ist also im Gegensatz zum Namen der Rose und ähnlichen Büchern eine wirkliche Handschrift. Zunächst wurden Auszüge veröffentlicht, und einige Kapitel sind nur in einer polnischen Übersetzung erhalten. (Der Graf schrieb französisch.) Erst seit einigen Jahren liegt der Roman komplett vor - das heißt, in der Gestalt, die er zum Todeszeitpunkt des Autors hatte. Die Ausgabe im Haffmans Verlag enthält sämtliche erhaltenen Kapitel, außerdem eine Karte der Sierra Morena, ein Faksimile, einige unveröffentlichte Parallelstellen und umfangreiche Erläuterungen und Anmerkungen.
Es handelt sich um einen klassischen Schachtelroman in der Tradition des Decamerone und der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Im Unterschied zu diesen gewichtigen Vorläufern sind die einzelnen Erzählungen, die die Handschrift ausmachen, allerdings lose miteinander verbunden, wodurch sich eine äußerst komplexe Handlung ergibt. Der Leser läuft Gefahr, sich selbst im Labyrinth der Geschichten zu verlieren, welches er so bereitwillig betreten hat. Nach jeder Biegung, hinter jeder Tür tun sich neue erzählerische Räume auf, hier eine Liebesgeschichte, dort eine Räuberpistole, jenseits einer verborgenen Tür eine fein gesponnene Intrige, in einer finsteren Höhle eine Geistererscheinung. Man kann in diesem Labyrinth Jahre zubringen...
Graf Potocki war ein glühender Bewunderer der Aufklärung. Seine Liebe galt der Slawistik, der er erstmals wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse brachte. Er unternahm mehrere Reisen, förderte die polnische Kultur und verfolgte aufmerksam den Verlauf der französischen Revolution. Dem zeitgenössischen Ideal des Universalgelehrten kam er sehr nahe. All dies eröffnet noch eine weitere, völlig unerwartete Dimension in Potockis gewaltigem Werk: Es handelt sich um nichts geringeres als eine Enzyklopädie der Aufklärung, den Roman einer Epoche. Deismus, Hobbessche Staatsphilosophie, Religionskritik, materialistische Naturbetrachtung, Rationalismus, satirische Bloßlegung des überkommenen aristokratischen Ehrbegriffs - alles legt Potocki seinen Protagonisten in den Mund, wird diskutiert und erläutert. Und das in einer gleichzeitg eleganten und fieberhaft-phantastischen Weise, wie man sie einem trockenen und nüchternen Aufklärer nie zugetraut hätte.
Wer Umberto Eco, Jorge Luis Borges und Patrick Süskind liebt, wird von der Handschrift begeistert sein.
(rezensiert von: Marengo)

Wertung
gesamt
Welt
Aufmachung
Sprache
Story
Karte
Personenglossar
Sachglossar
Hinweise zu Sprache/Aussprache
Illustrationen
Zeichnungen/Sonstiges

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Fazit: Ein zu Unrecht vergessener Meilenstein der Phantastik. Liest sich wie ein aktuelles Meisterwerk.


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