Worum's geht:
Im Jahre 1739 macht sich der junge flämische Edelmann Alfons van
Woerden, Sohn eines berühmten Fachmanns für Zweikämpfe
und Ehrenhändel, auf den Weg, in die Dienste des Königs von
Spanien zu treten. In der Sierra Morena, einer von Vampiren, Räuberbanden,
liebeshungrigen Damen und Zigeunerinnen mit nachgesagten kannibalistischen
Neigungen bevölkerten Einöde, wird er Zeuge mysteriöser
Ereignisse. Er trifft auf Vagabunden, maurische Weise, den Ewigen Juden,
wirrköpfige Gelehrte, Don Belial de Gehenna, Überlebenskünstler,
frühe Mafiosi und zauberkräftige Kabbalisten, die allesamt voller
Geschichten stecken. Alfons lauscht fasziniert und verliert sich in dem
Labyrinth der Worte, bis er hinter all den Erzählungen die Umrisse
einer gewaltigen Verschwörung erblickt, die mit seiner familiären
Herkunft verknüpft ist...
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Warum's so gut
ist:
Kann ein solcher Roman echt sein? Schon die Umstände seiner Entstehung
erinnern an einen geschickt arrangierten Plot, wie er von Umberto Eco
oder einem anderen Meister der Postmoderne nicht kunstvoller hätte
erdacht werden können: Jan Graf Potocki (1761 - 1815), polnischer
Aristokrat, Geheimrat des Zaren und heimlicher Anhänger der französischen
Revolution, las seiner schwer erkrankten Frau aus Tausendundeine Nacht
vor. Sie äußerte den Wunsch, mehr solche Geschichten zu hören.
Der Graf setzte sich ans Schreibpult und las abends vor, was er geschaffen
hatte. Nachdem die Gräfin verschieden war, feilte Potocki so lange
an einer Silberkugel herum, die er von einem Samowar (ein Familienerbstück)
abgebrochen hatte, bis sie in den Lauf seiner Pistole passte, und erschoss
sich.
Wahrheit oder Legende? Wir wissen es nicht, doch es ist anzunehmen, dass
Graf Potocki es wie jeder gute Geschichtenerzähler verstand, sich
in einen Schleier von Geheimnissen zu hüllen. Die Abenteuer in
der Sierra Morena ist also im Gegensatz zum Namen der Rose
und ähnlichen Büchern eine wirkliche Handschrift. Zunächst
wurden Auszüge veröffentlicht, und einige Kapitel sind nur in
einer polnischen Übersetzung erhalten. (Der Graf schrieb französisch.)
Erst seit einigen Jahren liegt der Roman komplett vor - das heißt,
in der Gestalt, die er zum Todeszeitpunkt des Autors hatte. Die Ausgabe
im Haffmans Verlag enthält sämtliche erhaltenen Kapitel, außerdem
eine Karte der Sierra Morena, ein Faksimile, einige unveröffentlichte
Parallelstellen und umfangreiche Erläuterungen und Anmerkungen.
Es handelt sich um einen klassischen Schachtelroman in der Tradition des
Decamerone und der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht.
Im Unterschied zu diesen gewichtigen Vorläufern sind die einzelnen
Erzählungen, die die Handschrift ausmachen, allerdings lose miteinander
verbunden, wodurch sich eine äußerst komplexe Handlung ergibt.
Der Leser läuft Gefahr, sich selbst im Labyrinth der Geschichten
zu verlieren, welches er so bereitwillig betreten hat. Nach jeder Biegung,
hinter jeder Tür tun sich neue erzählerische Räume auf,
hier eine Liebesgeschichte, dort eine Räuberpistole, jenseits einer
verborgenen Tür eine fein gesponnene Intrige, in einer finsteren
Höhle eine Geistererscheinung. Man kann in diesem Labyrinth Jahre
zubringen...
Graf Potocki war ein glühender Bewunderer der Aufklärung. Seine
Liebe galt der Slawistik, der er erstmals wissenschaftlich gesicherte
Erkenntnisse brachte. Er unternahm mehrere Reisen, förderte die polnische
Kultur und verfolgte aufmerksam den Verlauf der französischen Revolution.
Dem zeitgenössischen Ideal des Universalgelehrten kam er sehr nahe.
All dies eröffnet noch eine weitere, völlig unerwartete Dimension
in Potockis gewaltigem Werk: Es handelt sich um nichts geringeres als
eine Enzyklopädie der Aufklärung, den Roman einer Epoche. Deismus,
Hobbessche Staatsphilosophie, Religionskritik, materialistische Naturbetrachtung,
Rationalismus, satirische Bloßlegung des überkommenen aristokratischen
Ehrbegriffs - alles legt Potocki seinen Protagonisten in den Mund, wird
diskutiert und erläutert. Und das in einer gleichzeitg eleganten
und fieberhaft-phantastischen Weise, wie man sie einem trockenen und nüchternen
Aufklärer nie zugetraut hätte.
Wer Umberto Eco, Jorge Luis Borges und Patrick Süskind liebt, wird
von der Handschrift begeistert sein.
(rezensiert von: Marengo)
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