HINTER DEM NORDWIND

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1 Rezension
-Ich soll euch von dem Land hinter dem Nordwind erzählen. Ein alter griechischer Schriftsteller erwähnt ein Volk, das dort lebte und dem es so gutging, daß die Menschen es nicht mehr ertragen konnten und sich ertränkten. Meine Geschichte stimmt nicht mit der seinen überein.-
Der Heuboden
Zyklus/Band -
Autor George MacDonald
Original At the Back of the Northwind
Erscheinungsjahr 1871, dt. 1996
Verlag Fischer
ISBN 3-596-80158-3
Subgenre Klassische Phantastik/Kinder- und Jugendbuch
Seitenzahl 426
Probekapitel -
Worum's geht:
Der kleine Diamant (benannt nach dem Pferd seines Vaters) wächst als Sohn eines Kutschers in einem Armenviertel Londons auf. Eines Nachts kommt die Dame Nordwind zu ihm und nimmt ihn mit auf ihre stürmischen Reisen. Diamant wird Zeuge vieler schöner schrecklicher Dinge, bis er in das Land hinter dem Nordwind gelangt. Nachdem er so einen Blick auf das Paradies erhascht hat, kehrt er zu seinen Eltern zurück. Er beginnt, Strahlen des himmlischen Lichts in das Leben der Arbeitslosen, Trinker und Straßenkinder zu bringen, die die Straßen Londons bevölkern. Die einen halten ihn für verrückt, die anderen für einen Engel - doch sind die Menschen von Diamant stets so tief berührt, dass sie ihm den Spitznamen "Gottes Baby" geben.

Bewertet mitSternen (Besucher-Rezension):
Wer sich jemals durch ein für Kinder geschriebenes Kunstmärchen der deutschen Romantik gequält hat, der wird der Feststellung, dass die englische Kinder- und Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden qualitativen Sprung darstellt, ohne weiteres zustimmen. Damit meine ich nicht, dass Romane wie Hinter dem Nordwind besonders gut für Kinder geeignet wären, sondern ganz allgemein die Abwendung von süßlichem Kitsch hin zu ernsthaften Themen, die in jedem Alter zu bewegen wissen.
Tatsächlich ist Hinter dem Nordwind kein Buch, dass sich dem Leser (egal welcher Altersstufe) leicht erschließt. Als Kind hätte es mir persönlich nicht gefallen, und selbst als Erwachsener brauchte ich zwei Anläufe, um es zu lesen. Das liegt einerseits an dem langsamen Handlungsaufbau mit seinen zahlreichen Ereignissen, deren Bedeutung für den Plot sich erst im nachhinein erschließt. Andererseits trägt der metaphysische Überbau des Romans nicht gerade zum schnellen Verständnis bei. Um es anhand eines Beispiels zu erläutern: Selbst einem Familienvater, der seine Frau misshandelt, begegnet Diamant liebevoll, indem er ihm mit seinem eigenen Verhalten ein besseres Beispiel entgegensetzt. Chesterton meinte, dass Kinder die Gerechtigkeit lieben, weil sie unschuldig sind, während Erwachsene aus nachvollziehbaren Gründen die Gnade bevorzugen. Ich glaube, als Kind wäre ich empört darüber gewesen, dass der Familienvater so milde behandelt wird, hätte MacDonalds Roman in die hinterste Ecke des Bücherregals verbannt und mir eine Fantasygeschichte vorgenommen, in der die Bösen am Ende im Kampf vernichtet werden...
Das Thema ist die Armut - soziales und wirtschaftliches Elend - und wie ihr begegnet werden kann. Sozialromantik findet man hier keine. MacDonald beschreibt die Lebensumstände des Proletariats im England des 19. Jahrhunderts kindgerecht, aber ungeschönt: die Wohnungsnot, die ganze Familien zwang, auf Heuböden zu hausen, die Kinderarbeit, den Alkoholismus (durch die Massenarbeitslosigkeit verfielen zahlreiche Männer und Frauen der Arbeiterklasse dem Gin). Die sozioökonomischen Ursachen der Pauperisierung werden angedeutet, gleichzeitig wird dem individuellen Schicksal der Protagonisten ein tieferer Sinn zugesprochen, der sie zu besseren Menschen erziehen soll. Es ist der Nordwind, in Gestalt einer schönen, geheimnisvollen Frau oder auch eines Wolfes auftretend, der auf gelegentlich erschreckende Weise in das Leben der Menschen eingreift und es verändert (oft ohne bemerkt zu werden - die Betroffenen spüren lediglich, dass etwas aus einer anderen Welt sie berührt hat). Am deutlichsten wird dies in der Person Diamants, der im Land hinter dem Nordwind (sprich: dem Paradies) gewesen und zurückgekehrt ist. Durch sein Verhalten sprengt er den Teufelskreis von Armut und Gewalt und löst eine Kette von Ereignissen aus, die für alle, die ihm begegnen, eine Verbesserung ihrer Lebensumstände oder, wenn es sich um Angehörige der Oberschicht handelt, eine charakterliche Läuterung bedeutet.
Schon beim Lesen dieser Sätze wird deutlich, dass MacDonald kein Revolutionär war. Er war ein christlicher Sozialreformer, dessen Antwort auf gesellschaftliche Missstände vor allem aus tatkräftiger Nächstenliebe und nachhaltigem Sozialverhalten bestand. Es mag naiv erscheinen, die Verbesserung gesellschaftlicher Probleme vom Verhalten einzelner abhängig zu machen, doch sollte man nicht vergessen, dass eine soziale Reformagenda sich nur schwer in ein Kinderbuch packen lässt. Auf einen anderen Aspekt der phantastischen bzw. Märchenliteratur des viktorianischen Zeitalters sei in diesem Zusammenhang hingewiesen: Hinter dem Nordwind enthält eines von MacDonalds Kunstmärchen, Prinzessin Tageslicht (im Original The Daylight Princess, als 28. Kapitel in den Roman integriert). Anhand dieses Textes lässt sich erkennen, dass die Kunstmärchen von George MacDonald, Oscar Wilde und anderen einerseits die direkte Vorstufe zur modernen angloamerikanischen High Fantasy darstellen (wenn es anhand dieses Beispiels auch längst nicht so deutlich wird wie etwa in Wildes The Young King oder MacDonalds Dayboy and Nightgirl), und dass sie andererseits auf geradezu subversive Weise - "getarnt" als Kindergeschichten - die Tabus und Konventionen der engstirnigen viktorianischen Gesellschaft sprengten. Letztendlich ist es dieses Erbe, dass heute von Jeff VanderMeer, Ian R. McLeod, Mary Gentle und China Miéville aufgegriffen wird.
Zurück zu Hinter dem Nordwind. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, den Einstieg zu finden, kann ich nur sagen, dass der kleine Roman für mich eines der beeindruckendsten und bewegendsten Leseerlebnisse seit langem war: Selten findet sich solche Schönheit in der heutigen Literatur. Schon zahlreiche Leser sind durch das Buch tief berührt worden, und ich bin sicher, dass noch viele Menschen bei seiner Lektüre diesen Stich im Herzen (nicht zuletzt hervorgerufen durch die bittersüße Wahrheit, die sich hinter Nordwinds Identität verbirgt) empfinden werden.
Die Ausgabe im Fischer Verlag kommt mit den Originalillustrationen von Arthur Hughes.
(rezensiert von: Marengo)

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Fazit: Nicht aufgrund seiner Düsternis, sondern aufgrund seiner komplexen Botschaft eher für Erwachsene als für Kinder geeignet. Wäre nicht die Szene, in der Diamant mit den Engeln spielt, eine besonders augenfällige Illustration der Tatsache, dass herzzereißende Schönheit jäh in Kitsch umschlagen kann, hätte ich die Höchstwertung vergeben.


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