Bewertet mit Sternen
(Besucher-Rezension):
Wer sich jemals durch ein für Kinder geschriebenes Kunstmärchen
der deutschen Romantik gequält hat, der wird der Feststellung, dass
die englische Kinder- und Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden
qualitativen Sprung darstellt, ohne weiteres zustimmen. Damit meine ich
nicht, dass Romane wie Hinter dem Nordwind besonders gut für
Kinder geeignet wären, sondern ganz allgemein die Abwendung von süßlichem
Kitsch hin zu ernsthaften Themen, die in jedem Alter zu bewegen wissen.
Tatsächlich ist Hinter dem Nordwind kein Buch, dass sich dem
Leser (egal welcher Altersstufe) leicht erschließt. Als Kind hätte
es mir persönlich nicht gefallen, und selbst als Erwachsener brauchte
ich zwei Anläufe, um es zu lesen. Das liegt einerseits an dem langsamen
Handlungsaufbau mit seinen zahlreichen Ereignissen, deren Bedeutung für
den Plot sich erst im nachhinein erschließt. Andererseits trägt
der metaphysische Überbau des Romans nicht gerade zum schnellen Verständnis
bei. Um es anhand eines Beispiels zu erläutern: Selbst einem Familienvater,
der seine Frau misshandelt, begegnet Diamant liebevoll, indem er ihm mit
seinem eigenen Verhalten ein besseres Beispiel entgegensetzt. Chesterton
meinte, dass Kinder die Gerechtigkeit lieben, weil sie unschuldig sind,
während Erwachsene aus nachvollziehbaren Gründen die Gnade bevorzugen.
Ich glaube, als Kind wäre ich empört darüber gewesen, dass
der Familienvater so milde behandelt wird, hätte MacDonalds Roman
in die hinterste Ecke des Bücherregals verbannt und mir eine Fantasygeschichte
vorgenommen, in der die Bösen am Ende im Kampf vernichtet werden...
Das Thema ist die Armut - soziales und wirtschaftliches Elend - und wie
ihr begegnet werden kann. Sozialromantik findet man hier keine. MacDonald
beschreibt die Lebensumstände des Proletariats im England des 19.
Jahrhunderts kindgerecht, aber ungeschönt: die Wohnungsnot, die ganze
Familien zwang, auf Heuböden zu hausen, die Kinderarbeit, den Alkoholismus
(durch die Massenarbeitslosigkeit verfielen zahlreiche Männer und
Frauen der Arbeiterklasse dem Gin). Die sozioökonomischen Ursachen
der Pauperisierung werden angedeutet, gleichzeitig wird dem individuellen
Schicksal der Protagonisten ein tieferer Sinn zugesprochen, der sie zu
besseren Menschen erziehen soll. Es ist der Nordwind, in Gestalt einer
schönen, geheimnisvollen Frau oder auch eines Wolfes auftretend,
der auf gelegentlich erschreckende Weise in das Leben der Menschen eingreift
und es verändert (oft ohne bemerkt zu werden - die Betroffenen spüren
lediglich, dass etwas aus einer anderen Welt sie berührt hat). Am
deutlichsten wird dies in der Person Diamants, der im Land hinter dem
Nordwind (sprich: dem Paradies) gewesen und zurückgekehrt ist. Durch
sein Verhalten sprengt er den Teufelskreis von Armut und Gewalt und löst
eine Kette von Ereignissen aus, die für alle, die ihm begegnen, eine
Verbesserung ihrer Lebensumstände oder, wenn es sich um Angehörige
der Oberschicht handelt, eine charakterliche Läuterung bedeutet.
Schon beim Lesen dieser Sätze wird deutlich, dass MacDonald kein
Revolutionär war. Er war ein christlicher Sozialreformer, dessen
Antwort auf gesellschaftliche Missstände vor allem aus tatkräftiger
Nächstenliebe und nachhaltigem Sozialverhalten bestand. Es mag naiv
erscheinen, die Verbesserung gesellschaftlicher Probleme vom Verhalten
einzelner abhängig zu machen, doch sollte man nicht vergessen, dass
eine soziale Reformagenda sich nur schwer in ein Kinderbuch packen lässt.
Auf einen anderen Aspekt der phantastischen bzw. Märchenliteratur
des viktorianischen Zeitalters sei in diesem Zusammenhang hingewiesen:
Hinter dem Nordwind enthält eines von MacDonalds Kunstmärchen,
Prinzessin Tageslicht (im Original The Daylight Princess,
als 28. Kapitel in den Roman integriert). Anhand dieses Textes lässt
sich erkennen, dass die Kunstmärchen von George MacDonald, Oscar
Wilde und anderen einerseits die direkte Vorstufe zur modernen angloamerikanischen
High Fantasy darstellen (wenn es anhand dieses Beispiels auch längst
nicht so deutlich wird wie etwa in Wildes The Young King oder MacDonalds
Dayboy and Nightgirl), und dass sie andererseits auf geradezu subversive
Weise - "getarnt" als Kindergeschichten - die Tabus und Konventionen
der engstirnigen viktorianischen Gesellschaft sprengten. Letztendlich
ist es dieses Erbe, dass heute von Jeff VanderMeer, Ian R. McLeod, Mary
Gentle und China Miéville aufgegriffen wird.
Zurück zu Hinter dem Nordwind. Nach anfänglichen Schwierigkeiten,
den Einstieg zu finden, kann ich nur sagen, dass der kleine Roman für
mich eines der beeindruckendsten und bewegendsten Leseerlebnisse seit
langem war: Selten findet sich solche Schönheit in der heutigen Literatur.
Schon zahlreiche Leser sind durch das Buch tief berührt worden, und
ich bin sicher, dass noch viele Menschen bei seiner Lektüre diesen
Stich im Herzen (nicht zuletzt hervorgerufen durch die bittersüße
Wahrheit, die sich hinter Nordwinds Identität verbirgt) empfinden
werden.
Die Ausgabe im Fischer Verlag kommt mit den Originalillustrationen von
Arthur Hughes.
(rezensiert von: Marengo)
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