Worum's geht:
Der junge Robert Borrows bricht aus dem Leben in Bracebridge aus, denn
auch wenn dort das Aether, der Stoff, auf dem die britische Gesellschaft
basiert, abgebaut wird, steht ihm da ein Leben als "Working Poor"
bevor. Er versucht sein Glück in London, aber auch dort ist das Leben
für Gildenlose hart, so schließt er sich dem Kleinkriminellen
Saul an. Gemeinsam geraten die beiden in die Kreise der Revolution. Robert
allerdings trifft die alte Bekannte Anna wieder, die sich als menschliches
Chamäleon entpuppt. Sie macht ihn mit Leuten aus der hohen Gesellschaft
bekannt. Während sich die Lage wegen der Revolution immer weiter
zuspitzt und Robert zu beiden Seiten Loyalitäten besitzt, holt ihn
die Vergangenheit ein: Ein gewöhnlicher Vorarbeiter aus Bracebridge
tritt in London als großer Herr auf - Robert ahnt, daß der
Mann ein düsteres Geheimnis hat und geht dem nach...
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Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Das Geschehen findet im Britannien einer alternativen Erde wohl im ausgehenden
20. Jh. statt, doch es gibt sehr deutliche Unterschiede. Im Kern steht
eine fortgeschrittene Industriegesellschaft, die aber noch weit von der
modernen Informationsgesellschaft entfernt ist, die Stimmung des Londons
von MacLeod ähnelt dem Dickens' offensichtlich. Die Arbeiter sind
arm und rauh, die Reichen leben voller Pomp und Glamour, stehen den Leiden
der Armen aber weitgehend herzlos gegenüber. Die Gesellschaftsstruktur
um die Gilden ähnelt der mittelalterlichen Stadt mit den starken
Zünften, es gibt aber noch andere vorindustrielle Elemente. Die Gilden,
welche die Herren im Lande sind, haben die Entwicklung von Schußwaffen
unterdrückt und Elektrizität ist zu nichts zu gebrauchen. Dafür
aber sind Fotografien alltäglich und einige Reiche besitzen frühe
Autos. Die Entwicklung verläuft sehr ungleichmäßig, da
die Gilden versuchen den Fortschritt aufzuhalten, was ihnen mit Hilfe
des Aethers weitgehend auch gelingt. Mit dem Aether lassen sich alle möglichen
Dinge wesentlich effizienter gestalten: Dampfkessel halten höheren
Druck aus, Messer schneiden besser und Drogen wirken stärker. Es
lassen sich aber auch Dinge umformen - aus Pferden werden Einhörner
geformt etc. Manchmal aber verändern sich die Dinge auch durch Kontamination:
So entstehen Drachenläuse, widerwärtige mutierte Gliederfüßler,
und Menschen können unterschiedliche Fähigkeiten, aber auch
Formen bekommen - nicht alle überstehen den Prozeß mit gesunder
Seele. Die Normalen stehen den Veränderten mißtrauisch gegenüber
- man greift schnell zur Lynchjustiz. Eigenartigerweise kommt Britannien
(wie wohl auch die anderen Nationen) ohne Regierung aus. Doch dieses wird
nicht thematisiert. Mit dem ersten Industriezeitalter wurde der König
und das Parlament abgesetzt und die Gilden traten an deren Stelle, aber
irgendwelche weitergehende Organisation scheint es nicht zu geben.
Neben dem Aether gesellen sich auch Zaubersprüche zu den magischen
Elementen, diese spielen aber nur eine sehr kleine Rolle und werden nur
beiläufig angewandt - das Aether allerdings hat wesentlich mehr Einfluß
in der Geschichte, als man zunächst annehmen kann.
Figuren treten relativ viele auf, ihnen ist gemein, daß sie nur
schwach ausgeprägte Charaktere haben - sie sind jedoch keineswegs
unplausibel. Weitgehend verhalten sich die Figuren entsprechend ihrer
gesellschaftlichen Stellung und momentanen Situation. Im Zentrum steht
Robert Borrows, der Erzähler der Geschichte. Bei ihm lassen sich
Wandlungen am besten bemerken, begleitet der Leser ihn doch vom Jungen
bis zum alten Mann durch ein schwieriges Leben - vom Arbeiterkind über
Kleinkriminalität und Revolution zum Gildenmeister. Aber auch Anna
und ihre Adoptivmutter Miss Summerton, beides Veränderte, machen
gewisse Wandlungen durch - am Habitus der extrem wandlungsfähigen
Anna leicht zu erkennen, weniger leicht auch an ihrem Charakter. Daneben
lernt man noch weitere Figuren wie den Kleinkriminellen und Revolutionär
Saul und seine Freundin Maud, die verwöhnte Tochter des Herren der
Telegrafengilde Sadie und den feinfühligen Salon-Revolutionär
und Architekten George, Ronald Stropck, einen gewöhnlichen Vorarbeiter
aus Bracebridge, der in London als Neureicher namens Bowdly-Smart auftritt,
und seine Frau Hermione, Roberts Familie und viele mehr kennen.
Das Thema der Geschichte ist das Leben in den letzten Tagen des dritten
Industriezeitalters. Die Geschichte ist in erster Linie als Sittengemälde
zu verstehen. Immer wieder werden detailliert Kleinigkeiten aus dem Alltag
beschrieben, wobei der Autor allerdings das Pittoreske bevorzugt - sieht
man vom zweiten Teil ab, werden viel häufiger Glanz und Glorie der
Reichen als Schmutz und Schweiß der Armen beschrieben. Bei den Armen
geht es eher um Mentalität als um Materialität oder um deren
Benehmen als Spiegel der feinen Gesellschaft. Bei den Story-Elementen
bedient sich der Autor bei einer Vielzahl von unterschiedlichen Genres:
Da ist zunächst einmal die an einen Bildungsroman erinnernde Entwicklung
Roberts, eine sachte entwickelte Liebesgeschichte zwischen ihm und Anna,
seine Verstrickungen in die Revolution und Untersuchungen um das Geheimnis
Stropcocks; es geht um Diskriminierung der Veränderten, um illegale
Experimente und Wirtschaftskriminalität. Das ist zwar teilweise höchst
originell - spannend ist es leider nicht. Denn auch wenn sich herausstellt,
daß viele Szenen Plotpunkte enthalten, kann der Leser erst am Ende
den Plot nachvollziehen. Oft muß man sich als Leser fragen, warum
gerade passiert, was passiert - es scheint willkürlich zu sein. Hinzu
kommt die eigenartige Tendenz, offensichtlich Plotrelevantes zusammenfassend
zu präsentieren, eingebettet in pedantisch genaue und langwierige
Schilderungen von Nebensächlichkeiten. Schließlich ist auch
die Auflösung unbefriedigend - auch wenn es keine klassische Detektivgeschichte
ist, ärgert mich der Verstoß gegen S.S. Van Dines zehnte Regel.
Man sollte zumindest ahnen können, wer der Drahtzieher ist. Dieser
wird aber erst ganz am Ende überraschend aufgedeckt.
Erfreulich ist die außergewöhnlich dichte und gelungene Beschreibung
der Szenen. Zudem gelingt es dem Autoren zumeist, die Situation wahrhaft
eindringlich zu schildern. Hier sei eine Warnung für Englisch-Anfänger
ausgesprochen: Der Stil des Autoren ist sehr schön und kraftvoll,
aber nicht einfach. Auch verwendet er z.T. ungebräuchliche Worte
oder kreiert gleich selber welche.
(rezensiert von: Theophagos)
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