Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Charles flüchtet aus dem viktorianischen England; auch wenn dem Autor
keine größeren Fehler unterlaufen, kommt keine entsprechende
Stimmung auf, da es doch nur sehr knapp beschrieben wird. Die Insel wird
auch nicht mit mehr Verve beschrieben, aber da der Großteil der
Geschichte dort stattfindet, erhält der Leser einen stärkeren
Eindruck von dieser. Oleandra ist relativ klein, mit schönen, schroffen
Klippen, auf denen ein rotes, viktorianisches Herrenhaus steht und an
deren Fuß eine bezaubernde, blaue Lagune liegt. Vielerorts wird
die Insel von Mangrovensümpfen bedeckt, in denen es bunte Pracht
und exotisches Getier gibt. Neben ein paar Engländern lebt nur der
Karibenstamm auf der Insel, die einstmals Haiinsel geheißen hatte,
da es in den Gewässern um sie herum ungewöhnlich viele dieser
Raubfische gibt. Die Darstellung der Kariben ist sehr einseitig - sie
scheinen einfach nur "Lumpenproletariat" und "Abschaum"
zu sein, auch wenn der Autor am Ende lustlos dieses ein wenig relativiert.
Die phantastischen Elemente spielen nur eine geringe Rolle. Da ist die
schöne Hausherrin, die bereits die Mitte der Vierziger überschritten
hat, aber wesentlich jünger aussieht; der Karibe Curk, der eine große
Affinität zu Haien hat, die ihm Macht über die Tiere verleiht.
Nur die Intelligenz der Delphine, die über einen eigenen Geschichtenkorpus
verfügen, spielt eine größere Rolle, da Grübler -
der jedes Wort versteht - zu den Hauptfiguren zählt.
Für eine Geschichte dieser Länge treten nur wenige Figuren auf
und die sind nicht einmal besonders komplex gestaltet - es sind allesamt
relativ flache Exzentriker. Die Hauptfigur ist Charles Sorley, ein englischer
Junge von neunzehn Jahren, dessen Familie gerade verstarb; nun ist er
höchst bekümmert. Er ist ein ansehnlicher, gutgewachsener Mann
von mittlerer Größe, studierte ein Jahr Geologie in Cambridge
und ist ein Poet - ganz wie John Keats. Abgesehen davon, daß er
freundlich ist, scheint er keine weiteren Charaktereigenschaften zu haben.
Ganz ähnlich wie der Delphin Grübler, welcher der beste Freund
von Charly wird. Auch seine Mutter ist vor kurzem gestorben und seitdem
trauert er ganz entgegen der üblichen delphinischen Gesinnung. Er
ist allerdings etwas füllig, der kleine Delphin, wie die Hausherrin
Elizabeth Meynell. Die hatte sich nach dem Tod ihres Mannes auf der Insel
niedergelassen. Die üppige Schönheit geht auf die Fünfziger
zu, sieht aber noch aus, wie Mitte der Zwanziger. Sie ist England nach
all den Jahren noch verbunden und ist bemüht eine englische Lebensart
auf der Insel zu führen. Sie liebt Poesie - und nicht nur diese,
ihre Moralvorstellungen scheinen in mancherlei Hinsicht etwas lockerer
zu sein. Ihre Tochter Jill verhält sich noch unangemessener; sie
trägt kurze, struppige Haare und abgeschnittene Hosen - sie sieht
aus wie ein Junge und hat sogar kaum einen Busen. Sie schätzt die
schönen, bunten Vögel nicht, kann Delphine nicht leiden und
schwärmt für Haie - dennoch gibt es ein sonderbares Band zwischen
den kleinen Racker und Charly. Schließlich gibt es noch Curk, den
Kariben. Er ist groß und athletisch, er ist kein Wilder - aber keineswegs
zivilisiert. Die Kariben fürchten und verehren ihn, selbst die Engländer
akzeptieren seine Macht - und seine Geheimnisse. Am Ende gibt es dann
noch einige plötzliche Charakterentwicklungen, die kaum überzeugen
können.
Der Plot erinnert ein wenig an eine bizarre Form von Eifersuchtsdrama:
Da ist Charly, der von allen Seiten begehrt wird - die schöne Elizabeth
schätzt den Poeten, aber auch den Mann, und Grübler liebt den
freundlichen Jungen mit der artverwandten Seele. Jill steht irgendwo in
der Mitte, wie sie halb Junge und halb erwachsenwerdende Frau ist. Doch
es gelingt dem Autor nicht, hieraus Spannung erwachsen zu lassen, zu unscharf
und fremd bleiben die Charaktere.
Dort hineingewoben ist ein Mystery-Strang: Warum sieht Elizabeth so jung
aus? Was ist mit Jill? Warum sind so viele Haie nahe der Insel? Wer ist
Curk? Doch der Autor verleiht diesen Mysterien kaum Gewicht, zu selten
kommen Hinweise, zu wenig interessiert es den Protagonisten, um hieraus
Spannung zu gewinnen.
Schließlich werden am Ende noch ein paar bedrohliche Situationen
eingebaut, die aber relativ undramatisch und beiläufig inszeniert
sind.
Der Handlungsaufbau entwickelt sich dramatisch an einem Erzählstrang
entlang - allerdings nicht besonders zügig.
Ungewöhnlich für das Genre (weniger für den Autor) ist
der der Erzählstil. Grübler berichtet dem Leser von den Ereignissen;
wenn er selbst anwesend war, als Ich-Erzähler, der sehr stark seine
Perspektive wiedergibt, wenn er nicht anwesend war (und aus zweiter Hand
berichtet), dann nimmt er eine sehr zurückhaltende auktoriale Perspektive
ein. Die Stilhaltung ist erwartungsgemäß empathisch bis pathetisch.
Die Sätze und Wortwahl sind eher unauffällig, doch die Geschichte
ließt sich sehr flüssig - viel flüssiger, als die Handlung
voranschreitet.
(rezensiert von: Theophagos)
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