Worum's geht:
In der gewaltigen Metropole, die Das Herz der Welt genannt wird,
brodelt es. Die Menschen leben unterdrückt von den Rattenlords, sie
werden aber wegen ihrer Handwerks-Mysterien benötigt, denn deren
Strukturen prägen die Welt. Doch die Anhänger des Hauses Salomon
um den Meister-Bauer Falke wollen nicht länger Tempel für andere
bauen und die Verschwörer um den Priester Plessiez wollen den Rattenkönig
von der weltlichen Herrschaft der Dekane, den 36 Inkarnationen des Göttlich-Dämonischen,
befreien. In diese Verschwörungen hinein gerät der junge Lucas,
ein Student an der Universität des Verbrechens, der sich prompt in
die ältere Frau Weiße Krähe verliebt, eine Schüler-Soldatin
des Unsichtbaren Kollegs. Langsam spitzen sich die Ereignisse zu und niemanden
ist klar, wer in dem Gewirre die Fäden in der Hand hält, an
deren Ende das Ende der Welt stehen könnte...
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Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Das Herz der Welt ist eine monströse Stadt, die sich bis an
den Horizont erstreckt - die Zahl der Einwohner läßt sich nicht
einmal schätzen. In und unter der Stadt spielt sich das ganze Geschehen
der Geschichte ab. Auch wenn vieles an die Renaissance erinnert, wie Rapiere,
Musketen, Kutschen und architektonische Kunstwerke, gibt es doch auch
viele andere Details, wie Luftschiffe, Fotoapparate, Mikrophone samt Lautsprecheranlage
sowie eine U-Bahn. Noch sonderbarer sind aber die Paradoxa; so gibt es
fünf Himmelsrichtungen (Nord - West und Aust), die jeweils in einem
90° Winkel auf einem 360° Kreis liegen oder das merkwürdige
Verhältnis von feststehendem Schicksal und beeinflußbarer Zukunft.
Diese magischen Elemente, wie das Wirken von Magie insgesamt, sind der
hermetischen Magia der Renaissance entliehen; Talismane, Tarot-Karten,
astrologische Tabellen und insbesondere das Prinzip der Korrespondenz
spielen eine große Rolle, Zauberstäbe und Feuerbälle keine.
Die Zahl der auftretenden Figuren ist überwältigend. Da ist
der Priester Plessiez, eine schwarze humanoide Ratte, die mittels Nekromantie
plant, den Rattenkönig von der Herrschaft der Dekane zu befreien
und dazu gewillt ist über Leichen zu gehen (besonders, wenn es nur
die Leichen von niederen Menschen sind), ein wichtiges Hilfsmittel ist
das Königsgedächtnis, ein besonders geschulter Geist, der jedes
Gespräch fehlerfrei wiedergeben kann - diese Person ist Zar-bettu-zekigal,
eine lesbische Katayanerin, eine Mischung aus Frau und Affe, die sich
ständig verliebt. Zusammen mit Lucas wohnt sie in der Holzschnitzerstraße.
Dieser ist der Erbsohn der königlichen Dynastie von Candover, der
an der Universität des Verbrechens studiert; die beste Vorbereitung
auf den Thron. Lucas eignet sich am besten als Identifikationsfigur, da
er ebenso wenig wie der Leser überblicken kann, was vor geht. Aus
bloßer Verliebtheit zu Valentine, der Weißen Krähe, die
in der selben Straße wohnt, versucht er ihr zu helfen. Diese dreißigjährige
Frau ist eine Schüler-Soldatin, eine in der Magia und im Schwertkampf
bewanderte Frau. Anfangs möchte sie mit der ganzen Sache nichts zu
schaffen haben, aber der Lord-Architekt Baltazar Casaubon kann die Meister-Ärztin
überzeugen. Casaubon ist ein gewaltiger, fetter Mann, jovial und
gutmütig, der ganz wie Lucas in Valentine verliebt ist. Neben ihm
ist der Rädelsführer der Tempelbauer, Meister Falke, nur ein
Stümper, aber wenn es Falke gelingen sollte das letzte Wort, Seshat,
zu finden, könnte er zum richtigen Zeitpunkt einen Tempel bauen,
der die Menschen befreit. Schließlich ist da der Dekan Spagyrus,
ein Gott-Dämon, Herr von Mittag und Mitternacht, dem seine alchemistischen
Experimente wichtiger scheinen als die Verschwörungen seiner Diener.
Viele der Figuren sind umfassend gebildet oder sehr schlau, es gibt kaum
einen einfachen Schlagtod oder Langfinger, auch wird ihnen kaum Raum zur
Entfaltung zu gestanden. Dafür aber sind es keine geraden Typen,
es ist keine Schönheit dabei, kein Muskelprotz oder hagerer Herrscher,
sie alle sind ein wenig sonderbar und eigentümlich. Einigermaßen
ungewöhnlich ist auch die schiere Zahl der starken Frauenfiguren,
deutlich mehr als die Hälfte der aktiven Figuren sind weiblich.
Die Autorin erzählt eine Vielzahl von Geschichten, die einander überkreuzen.
Die meisten davon sind in irgendeiner Form Verschwörungen. Im Kern
stehen jedoch die Bemühungen von Plessiez und Falke den Status Quo
endgültig zu verändern und Valentines Bemühungen das Ende
der Welt zu verhindern. Aufgrund der zahlreichen Handlungsstränge
wirkt die Geschichte sehr wirr, es scheint, als ob sich die Autorin selbst
nicht immer im klaren sei, wohin die Reise gehen soll, denn mindestens
ein Strang verläuft ins Leere.
Daß einige Figuren sehr spät eingeführt werden, die Paradoxa
des Settings und die Tendenz der Autorin wenige Überblicksinformationen
zu geben und die wenigen nur sehr beiläufig, macht das Verständnis
nicht leichter. Hinzukommt, daß die Autorin gerne und ausführlich
Details beschreibt - so sind die Kern-Plots nach etwa 600 Seiten abgeschlossen,
aber es folgen noch ungefähr 70 Seiten. Dennoch ist die Geschichte
interessant, einige Stränge sind sogar sehr spannend und die Auflösung
um Valentines Strang ist sehr ungewöhnlich - kurzum: Es wird viel
magisches, phantastisches und originelles geboten.
Auch wenn diese Geschichte Teil des White Crow Zyklus' ist, sind
kaum Anknüpfungspunkte zu den anderen Geschichten zu finden, selbst
die zwei wiederkehrenden Charaktere - Valentine und Casaubon - verändern
sich von Geschichte zu Geschichte.
Der Schreibstil ist dem Verlauf der Geschichte angemessen, denn die Autorin
benutzt häufig mittellange Sätze, deren Duktus nicht immer leicht
zu folgen ist. Die Wortwahl ist zumeist angemessen, so ist die Ausdrucksweise
der Figuren bisweilen recht derb. Allerdings ist die Übersetzung
nicht immer gut - Scholar-Soldier wird mit Schüler-Soldat
übersetzt; "Gelehrter-Soldat" oder "Lehrer-Soldat"
wäre treffender gewesen, am besten wäre es vielleicht den ersten
Teil gar nicht zu übersetzen: Scholar-Soldat.
Das Titelbild ist bescheiden, aber dafür gibt es kommentierte Holzschnitte,
die das Geschehen z. T. sehr treffend wiedergeben, aber in jedem Fall
gut zur Gesamtstimmung passen.
(rezensiert von: Theophagos)
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