Worum's geht:
Carter wächst als Sohn
von Lord Ashton Anderson in dem geheimnisvollen alten Herrenhaus Abendsee
auf. Seine glückliche, wenn auch durch den Verlust der Mutter etwas
einsame Kindheit verbringt er mit Enoch, dem Uhrenwächter, Chant,
dem Lampenentzünder, dem Butler Brittle und dem übrigen skurrilen
Personal des Hauses. Jedoch wird der Friede durch die Präsenz seiner
Stiefmutter, der kalten und intriganten Lady Murmur, getrübt. Als
Carter den Schlüsselbund seines Vaters durch eine List Murmurs an
das Oberhaupt der Anarchistengesellschaft verliert und diesem somit ungewollt
den Zutritt zum Anwesen verschafft, wird Carter der Obhut von Freunden
Lord Ashtons anvertraut, da der Verbleib in Abendsee zu gefährlich
für ihn wird. Jahre später kehrt er in Begleitung des jungen
Anwalts William Hope zurück: Lord Ashton ist spurlos verschwunden,
das Haus steht ohne Herr da, die Anarchisten stiften noch immer Unfrieden
- und Lady Murmur sähe lieber ihren eigenen Sohn, Carters Halbbruder
Duskin, als Erben des Hauses. Gegen alle Widerstände versucht Carter
mit Hopes Hilfe, die Geschäfte seines Vaters zu übernehmen,
doch Gefahr und Verantwortung sind groß, denn er weiß, dass
Abendsee weit mehr als nur ein verwinkeltes englisches Landhaus ist.
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Bewertet mitSternen
(Besucher-Rezension):
In der Fantasy spielt der Schauplatz eine eigenständige Rolle. Dies
versichert uns George R. R. Martin, und wer jemals in Westeros, Mittelerde,
Hogwarts oder Narnia gewesen ist (andere mögen an dieser Stelle Zamonien,
Gormenghast, Glorianas Schloss oder New Crobuzon einfügen), der wird
ihm lebhaft beipflichten. Dieser Satz trifft auf wenige Fantasies so stark
zu wie auf Stoddards Debütroman. Abendsee, das Hohe Haus, ist der
eigentliche Star dieser Geschichte. Es macht einfach Spaß, sich
in seinen Räumen und Fluren aufzuhalten. Abendsee vermittelt dem
Leser das warme Kribbeln im Unterleib, dass man nur dann empfindet, wenn
man es sich in einem vertrauten, gemütlichen Zimmer bequem gemacht
hat, und den angenehmen Schauer, der einem den Rücken hinunterläuft,
wenn man ein labyrinthisches Schloss oder eine alte Bibliothek erkundet.
Abendsee ist im wahrsten Sinne des Wortes ein gewaltiges Phantasiegebäude.
Sein Inneres wird von Flüssen durchkreuzt und sogar von, ähem,
hausgemachten Naturkatastrophen heimgesucht. Es umschließt Fürstentümer
und Ozeane, Urwälder und Agrikulturen. Enge Korridore und Geheimgänge
wechseln sich mit majestätischen Hallen ab. Mal trifft man monatelang
kein lebendes Wesen, wenn man seine Zimmerfluchten durchstreift, mal bereist
man dichtbevölkerte Reiche. Auf den Dachböden hausen Drachen
und in den Kellern Raubtiere, die sich als Möbel tarnen. Es gibt
immens viel zu entdecken!
Es sei bei all dem darauf hingewiesen, dass es nicht etwa um eine konventionelle
Parallelwelt geht, in die man durch eine magische Pforte oder ähnliches
eintritt, sondern es handelt sich um ein wirkliches Haus, das ein Universum
für sich darstellt. Es sind Salons, in denen tropische Vegetation
alles überwuchert, Flure, in denen über Meilen der Nebel wabert,
Säle, in denen Märkte abgehalten werden, und Innenhöfe,
auf denen Getreide kultiviert wird. Von außen sieht Abendsee wie
ein ganz gewöhnliches Herrenhaus mit leicht verwunschener Atmosphäre
aus, das sich mit seinen Türmchen, Galerien, Wasserspeiern und Bogenfenstern
als architektonisches Durcheinander präsentiert. Doch wenn man von
den Inneren Räumen aus, in denen der Herr von Abendsee residiert,
durch gewisse Türen schreitet, gelangt man in den Langen Gang, der
die Länder des Weißen Zirkels miteinander verbindet, welche
dem Herrn des Hauses die Treue geschworen haben. Hat man den Weißen
Zirkel durchquert, so schließen sich zahlreiche weitere Reiche und
Landstriche an, die teils mit dem Herrn und seinen Verbündeten in
Frieden leben, teils kriegerische Absichten hegen. In den verschiedenen
Ländern haben sich gelegentlich skurrile Gesellschaftssysteme entwickelt
- so genießen in Gegenden mit Dielenböden und hölzernen
Geländern und Wandverkleidungen die Feuerwehrleute das höchste
Ansehen, während anderswo die Kaste des häuslichen Reinigungspersonals
sogar die Regierung stellt. Dies mag zur Erläuterung genügen,
ist aber bei weitem nicht alles, da man am besten selbst die labyrinthartige
Architektur des Hohen Hauses erkundet und seine phantastischen Bewohner
kennenlernt.
Das Hohe Haus ist eine Hommage an die Ende der Sechziger, Anfang
der Siebziger von Lin Carter herausgegebene Reihe Adult Fantasy,
in der stilbildene Werke von AutorInnen wie Lord Dunsany, Poul Anderson,
Hope Mirrlees, George MacDonald, James Branch Cabell und Joy Chant erschienen.
Unter diesen Autoren sind auch Stoddards Vorbilder zu suchen, und entsprechend
steckt Das Hohe Haus voller Anspielungen und Querverweise, die
auf liebevolle Art in den Roman integriert wurden, so dass niemals die
Eigenständigkeit unter der Größe der Vorbilder leidet.
(Ein größerer Unterschied zwischen diesem Vorgehen und einem
Werk wie etwa Christoph Marzis Lycidas, das aus Versatzstücken
von Dickens, Miéville und Gaiman zusammengeschrieben wurde, ist
kaum denkbar!) Die Handlung scheint im viktorianischen England zu spielen.
Es könnte sich aber auch um einen gewollten Anachronismus handeln,
da Stoddards wohl größtes Vorbild, George MacDonald, in dieser
Zeit lebte. Abendsee selbst liefert in dieser Hinsicht kaum Anhaltspunkte,
da sich hier Ritterheere bekämpfen, während anderswo Männer
in Hüten und dunklen Mänteln mit Pistolen und Messern aufeinander
losgehen. In der Tat macht gerade auch dieses kunterbunte Durcheinander
den Reiz der Geschichte aus. Der kosmologische Hintergrund von Abendsee
wird eher im Vorbeigehen gestreift, was ihn für weitere Romane ausbaufähig
macht. (Das Hohe Haus ist ein abgeschlossener Roman, eine Fortsetzung
ist bereits unter dem Titel Rückkehr nach Abendsee, im Original
The False House, erschienen.)
Der Plot selbst ist, wie viele Fantasyromane, eine geradlinige Abenteuergeschichte
mit Ansätzen zum Entwicklungsroman. Carter und seine Verbündeten
bekämpfen die Gesellschaft der Anarchisten, deren Ziel - Bescheidenheit
ist ihre Sache nicht - die völlige Vernichtung des Universums ist.
Wer hier konservative Instinkte wittert, liegt ganz richtig: Die traditionellen
Staatssysteme der verschiedenen Reiche von Abendsee sind stets volksnah
und sinnstiftend, während die Anarchisten verantwortungslose Brandstifter
und Hetzredner sind, berauscht von ihrer eigenen Machtgier und Zerstörungswut.
Da aber die Absicht der Anarchisten keineswegs wie im politischen Anarchismus
die Errichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaft ist, sollte man die
politische Lesart nicht überstrapazieren. Allenfalls ließe
sich sagen, dass "Gesellschaft der Nihilisten" vielleicht ein
passenderer Name gewesen wäre, da eher den Zielsetzungen dieser Bösewichter
entsprechend.
Auffällig ist, dass Stoddard auf explizite Sex- und Gewaltdarstellungen
vollständig verzichtet und sich somit von vielen zeitgenössischen
Fantasyautoren stark abhebt, was den Roman auch für Kinder gut lesbar
macht. Tiefgehende Charakterzeichnungen sucht man außer bei der
Hauptfigur vergeblich, herauszuheben ist aber auf jeden Fall, dass Stoddard
dem Gros der Fantasyautoren stilistisch überlegen ist. Ein starkes
Manko stellt in meinen Augen die Bastei-übliche schlampige Aufmachung
des Taschenbuchs dar. Was die fünf keulenschwingenden Hampelmänner
mit Greif, Hund und Burg auf dem Cover dieses Romans zu suchen haben,
ist mir schleierhaft. Aber dafür kann der Autor natürlich nichts.
(gelesen von: Marengo)
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