Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Was bleibt von der Zivilisation unter schlimmsten Umständen?
Mit dieser Frage sieht sich der Leser gleich auf den ersten Seiten von
Die Kuppel konfrontiert, wenn er sich in einer Gesellschaft wiederfindet,
in der Blut, Häute, Knochen und vor allem Fleisch die Dreh- und Angelpunkte
des Daseins sind, und man auch vor einem aus der Not geborenen Kannibalismus
nicht zurückschreckt. In einer feindlichen Umwelt versucht eine menschliche
Stammesgemeinschaft zu überleben: Die Jagd auf andere, fremdartige
und dennoch intelligente Spezies, die ebenfalls als Jäger agieren,
bestimmt einerseits den Alltag, andererseits ist das Aufgeben nutzlos
gewordener Stammesmitglieder eine ständige Bedrohung für den
Einzelnen, der der Gemeinschaft in diesem Fall noch einen letzten Dienst
zu erweisen hat. Eßbares Gemüse existiert nicht in dieser lebensfeindlichen
Welt, und somit scheint Die Kuppel erst einmal nichts für
Leser mit schwachem Magen zu sein.
Ob sich der junge Autor Peadar Ó'Guilín in seinem Debut-Roman
mit diesem Thema einen Gefallen getan hat? Die Kuppel wird dadurch
zu weit mehr als einer simplen Geshichte ums Erwachsenwerden, doch unsere
Gesellschaft ist eine, die mit dem Schlachten und den weiteren Hintergründen
des Fleischkonsums nicht konfrontiert werden will, und das Thema Kannibalismus
löst wohl bei vielen eine instinktive Abwehrreaktion aus.
Um so erstaunlicher ist die Feinfühligkeit, mit der Ó'Guilín
in eine Gesellschaft einführt, deren Vorbilder irgendwo zwischen
realen Stammesgemeinschaften unter unwirtlichen Bedingungen (wie etwa
Inuit), Goldings Herr der Fliegen und düsteren Zukunftsvisionen
von degenerierten Kulturen liegen.
Wer hier Splatterorgien erwartet, wird enttäuscht werden, denn was
einen anfangs vor den Kopf stößt, sind keineswegs ausgewalzte,
bluttriefende Szenen, sondern die Normalität von Überlebenskonzepten,
die uns völlig fremd erscheinen und Ó'Guilín
nutzt diesen Effekt geschickt aus und spielt mit den Empfindungen des
Lesers, die sich später, nachdem man sich an die Welt gewöhnt
hat, im Ekel der Figur Indrani spiegeln, die aus einer zivilisierteren
Umgebung zu den Wilden stößt.
Das Thema Barbarei contra Zivilisation zieht sich wie ein roter Faden
durch die Handlung, denn auch für den stotternden Helden Stolperzunge
ist eine so harte Umgebung, in der Männer in den Dreißigern
schon Greise sind, kein guter Ort.
Wie sich dieser untypische Held trotz der widrigen Umstände durchschlägt,
trägt einen Teil zur immensen Spannung bei, mit der der Roman aufwarten
kann: Das Tempo ist fast durchgängig hoch, Konflikte erst
mit dem eigenen Stamm, dann mit dem Bruder, später mit der ganzen
Welt schaukeln sich kontinuierlich auf oder lösen einander
ab, und diese Welt voller Gefahren und ohne einen Punkt, an dem man in
aller Ruhe Atem holen könnte, wird dadurch greifbar. Die Kuppel
ist ein Roman, den man nur schwer aus der Hand legen kann.
Weitere Sogwirkung schafft nebst der vordergründigen Spannung und
der treibenden Charaktermotivation auch das Rätsel der Kuppel selbst:
Nach und nach läßt sich erahnen, was es mit den Sphären,
die am Himmel sichtbar sind, den seltsamen Ruinen, in denen die Menschen
leben, und den anderen Spezies auf sich hat der Leser ist dabei
Stolperzunge stets einen Schritt voraus und erkennt Dinge, die sich dem
Verständnis des Wilden entziehen.
In einem gewöhnlichen Jugendbuch würden Stolperzunges Abenteuer,
wenn er den Stamm verläßt und die Wahrheit über die Welt
herausfindet, zu seiner Läuterung führen er würde
sich seiner zivilisierten Gefährtin anpassen, ein besserer
Mensch werden. Die Kuppel entzieht sich solchen Plattitüden aber
immer wieder elegant und stellt ein differenziertes Bild vom Überlebenskampf
und zivilisatorischen Praktiken zur Verfügung, ohne der Versuchung
zu erliegen, am Ende durch eine weiterentwickelte, die Barbarei überwunden
habende Gesellschaft den Konflikt aufzulösen. Einzig die gesellschaftlichen
Strukturen, die als Hintergrund der Handlung dienen, scheinen am Ende
allzu einfach aufgebaut allerdings werden sie auch nicht näher
ausgeleuchtet und nur aus Stolperzunges eingeschränkter Sicht geschildert,
so daß der einzig wahre Anschein eines reinen Jugendbuches vielleicht
aufkommt, wenn einmal -auf sehr charmante Weise- aus einer Liebesszene
ausgeblendet wird. All Ages-Literatur also hier nur im besten Sinne,
wenn eine vordergründig hoch spannende Geschichte mit nicht speziell
für junge Leser heruntergebrochenen Themen kombiniert wird, die auch
Erwachsene ansprechen und beschäftigen.
Erfahrene Leser werden allein schon aufgrund des verräterischen
deutschen Titels natürlich frühzeitig merken, wohin der
Hase läuft, und die Anklänge an Filme wie die Truman Show,
Running Man oder Die Klapperschlange zu deuten wissen, doch
die individuelle Charaktergeschichte, die nicht nur die Emanzipation vom
eigenen Stamm und der falschen Fremdwahrnehmung von allen Seiten zum Thema
hat, und die Dynamik der Handlung, die mit grusligen und manchmal auch
überraschenden Monstren aufwartet, sorgen für gute Unterhaltung.
Sogar sprachlich bietet der Roman Interessantes, denn Sprache und letztlich
die Frage, inwieweit sie mit Intelligenz und Zivilisation zusammenhängt,
wird ebenfalls in vielen Varianten thematisiert: Vom stotternden Hauptcharakter
bis hin zu fehlender Verständigung unter den Spezies und der Unmöglichkeit,
sich trotz gleicher Sprachkenntnisse zu unterhalten, wenn einem die Konzepte
für die Gedankenwelt des Gegenübers fremd sind.
Als Stolperzunge mit seiner zivilisierten Gefährtin auf der Reise
zum Rand der Kuppel schon so gut wie gescheitert ist und er mehr über
seine Welt erfahren hat als Generationen von Stammesbrüdern vor ihm,
wird die zentrale Frage in Die Kuppel weitergeführt und gewinnt
einiges an Relevanz und unbehaglichem Gegenwartsbezug, wenn es darum geht,
was eine hochzivilisierte Gesellschaft an anderer Stelle an Barbarei in
Kauf nimmt, um ihren angenehmen Status Quo zu erhalten.
Was bleibt von der Zivilisation unter besten Umständen?
(rezensiert von: mistkaeferl)
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