Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Nimmt man es ganz genau, dann muß man der Autorin vorwerfen, die
Geschichte nicht sorgfältig konstruiert zu haben. Offensichtlich
hat sie keine große Mühe auf die Rahmenhandlung verwandt, die
nicht sehr glaubwürdig ist. Zwei erwachsene Wissenschaftler, die
bisher nur mit Tieren experimentiert haben, von denen einige in der Vergangenheit
geblieben sind, und die genau wissen, daß ihre Zeitmaschine störanfällig
und nach jeder Rückholaktion reparaturbedürftig ist, wobei die
Reparatur sich mehrere Monate hinziehen kann, lassen sich von einem vierzehnjährigen
Teenager überreden, ihn ins Mittelalter zu versetzen, das nun nicht
gerade für seine Gewaltlosigkeit, Friedfertigkeit, Gerechtigkeit,
Demokratie und sein funktionierendes Gesundheitssystem bekannt ist. Rolfs
Eltern werden auch nicht gefragt und auf die Schilderung des Schicksals
des armen Jungen, der so unvermutet aus dem Mittelalter in die Gegenwart
geschleudert wurde, verwendet Thea Beckman kaum ein Wort. Ausführlich
hingegen erzählt sie, wie Rolf Kinder aus den Händen eines Raubritters
befreit, dennoch ist diese Episode ebenfalls nicht sehr glaubwürdig.
Aber so genau nehmen wir es heute nicht, da die Güte des Romans durch
diese Mängel kaum gemindert wird. Denn Kreuzzug in Jeans ist eigentlich
kein Fantasyroman, schon gar nicht das, was man heutzutage unter einem
Fantasyroman versteht, denn die Autorin schrieb ihre Geschichte in den
Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als noch niemand ahnte, daß
dieses Genre einmal boomen würde. Thea Beckman benutzt Rolfs Zeitreise,
um ihren jungen Lesern ein wichtiges Thema nahezubringen: Die Verführbarkeit
von Menschen, insbesondere von Kindern und Jugendlichen. Rolf ist nicht,
wie er sich erhofft hat, als Zuschauer bei einem Turnier gelandet, sondern
er findet sich inmitten tausender Kinder jeden Alters wieder, die unter
der Leitung zweier Mönche nach Genua ziehen, um Jerusalem von den
Sarazenen zu befreien. Rolf schließt sich dem Kinderkreuzzug an.
Die meisten Kinder sind Waisen, Ausgestoßene, sozial Unterprivilegierte,
manche stammen aber auch aus höhergestellten Familien. Neben den
Mönchen genießen die Kinder aus den besseren Familien eine
bevorzugte Behandlung und geben den Ton an. Der offizielle Führer
des Kinderkreuzzuges ist Nicolas, ein Hirtenjunge, dem Engel Gottes Botschaft
übersandt haben, er solle ein Kinderheer nach Jerusalem führen.
Durch sein selbstbewußtes Auftreten wird auch Rolf bald zu einer
Führungspersönlichkeit, der maßgeblich dazu beiträgt,
daß möglichst viele Kinder die Strapazen der Reise, Hunger,
Durst, Kälte, Überfälle und Krankheiten lebend überstehen.
Das gelingt aber nicht immer. Doch die wahre Gefahr geht nicht von diesen
Übeln aus, sondern von den Mönchen. Die beiden sind nicht nur
falsche Propheten, sondern auch falsche Ordensleute und benutzen die Gutgläubigkeit
der Kinder für ihre eigenen Ziele. Diese armen Kinder, um die sich
nie jemand gekümmert hat, sind erfüllt von dem Glauben an ihre
Mission und von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie glauben daran,
das Paradies auf Erden zu finden. Damit ist Kreuzzug in Jeans endgültig
keine einfache Zeitreisegeschichte mehr, sondern ein universell gültiges
Lehrstück über Manipulation und Verführbarkeit, aber auch
über Zivilcourage und den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen.
Man braucht eine größere Anzahl von Menschen, die unterprivilegiert,
arm und ohne Perspektive sind oder auch nur subjektiv das Empfinden haben,
ihre Lage sei hoffnungs- und ausweglos und einen oder mehrere Führungspersönlichkeiten,
die einfache Antworten haben, einigermaßen glaubwürdig eine
signifikante Verbesserung der Lebensumstände versprechen und fähig
sind, ihre Macht mit Charisma oder Gewalt zu festigen. Auf diese Weise
bringt man Kinder dazu, einen Kreuzzug zu veranstalten, in dem Glauben,
sie könnten die Heilige Stadt des Christentums von den Sarazenen
zu befreien, man kann das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte
begehen, indem man Menschen glauben macht, sie seien dazu bestimmt, die
Welt zu beherrschen und andere müßten von der Erde verschwinden,
oder man verfolgt mit dieser Taktik weitaus banalere Ziele und hämmert
Menschen ein, ihr Wert hinge von der "richtigen" Markenkleidung
und anderen Statussymbolen ab.
Thea Beckmans Blick gilt aber in erster Linie nicht den Verführern
sondern den Kindern. Denn die ursprünglich achttausend Teilnehmer
des Kinderkreuzzuges sind ja keine heterogene Masse und es sind auch nicht
alles Lemminge, die blind ihren Führern hinterher laufen. Der Jugendliche,
der sich besonders hervortut, ist natürlich Rolf, der in der Gegenwart
aufgewachsen ist und deshalb selbstbewußter handelt als die Kinder
des Mittelalters, die an die Ständehierarchie und "gottgegebene"
Ordnung gewöhnt sind. Rolf ist der festen Ansicht, daß ein
Anführer sich durch charakterliche Qualitäten auszeichnen sollte
und nicht einfach aufgrund seines Standes oder gar aufgrund einer "göttlichen
Berufung" diese Rolle inne haben sollte. Die Spannung des Romans
resultiert neben den Katastrophen, die die Kinder treffen, hauptsächlich
aus Rolfs Anführerrolle, in die er eher unbeabsichtigt hineingerät
und die ihm von anderen streitig gemacht wird. Interessant ist aber auch
die Frage, wie ein Individuum reagiert, wenn es Teil einer Masse ist.
Es gibt fürsorgliche Kinder, die sich um die Kleinen, Schwachen und
Kranken kümmern, es gibt Egoisten, die nur ihr eigenes Wohl im Auge
haben, es gibt Kinder, die tapfer ihre eigene Meinung vertreten, auch
wenn sie nicht der Mehrheit entspricht, es gibt Kinder, die sich um Kompromisse
bemühen und es gibt Mitläufer, Opportunisten und Aufwiegler.
Und als es zu einer Begebenheit kommt, die die Kinder nicht mehr als Individuen,
sondern als aufgebrachte Masse reagieren läßt, lassen sich
auch die Friedfertigsten unter ihnen zu kaum für möglich gehaltene
Grausamkeiten hinreißen.
(rezensiert von: Top
Dollar)
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