Bibliotheka Phantastika verleihtSterne:
Die Geschichte spielt zum großen Teil im Wonderland und zu einem
kleinen Teil im "realen" London von 1859 bis 1872. Das London
erinnert ein wenig an Dickens - Waisenheim, Straßenkinder und etwas
High Society. Beddor verwendet ein paar historische Figuren, die aber
nur begrenzt viel mit ihren Vorbildern gemein haben. In Wonderland gibt
es den Everlasting Forest, das Valley of Mushrooms, die Volcanic Plains
und die Hauptstadt Wondertropolis etc.; die Umgebungen werden allerdings
nur lapidar beschrieben. Über Wonderland herrscht seit Generationen
die Königin, die bisher das Oberhaupt der Heart-Familie stellte.
Das Parlament wird mit den Fürsten, den Lords und Ladies der Spades,
Clubs und Diamonds Familien besetzt. Unter der totalitären Herrschaft
der bösen Redd wird aus dem märchenhaften Wonderland, wo es
Tarty-Tarts an jeder Ecke gab, ein Alptraum: Es wird Redds Propaganda
auf gewaltigen Werbetafeln verkündet, Drogen (Imagination Stimulants)
werden verdealt, die Anhänger der White Imagination verfolgt und
ganz generell Korruption und Verbrechen gefördert. Im Arbeitslager
- den Crystal Mines - in dem vorher die Anhänger der Black Imagination
zur Umerziehung arbeiten mußten, müssen nun die Feinde Redds
bis zum Tode arbeiten.
Während London z.T. als atmosphärische Untermalung genutzt wird,
ist das Wonderland nur ein buntes Ambiente; Beddor verwendet weitgehend
simplifizierte, aus der Realität bekannte Strukturen (totalitäre
Regime) und überzieht diese mit einer bunten Textur, die er von Carroll
aufgreift und bisweilen leicht verfremdet.
Magische Elemente gibt es etliche; da gibt es die verschiedenen Bewohner
des Wonderlands, wie die Kartensoldaten und deren verbesserte Variante
"The Cut", die ein wenig an Androiden erinnern, lebende Schachfiguren,
die Wasserpfeife rauchenden Raupen, Jabberwockies, sprechende Bäume
usw. Großen Augenmerk legt der Autor auf Waffen: Es wird meistenteils
mit Schwertern gefochten, der Hatter kämpft mit rotierenden Klingen
an den Handgelenken etc. und einen Hut, der sich in verschiedene Wurfwaffen
verwandeln kann. Es wird mit Cannonball Spiders geschossen, die sich in
ihr Ziel verbeißen, und Alyss weiß als junge Frau natürlich
mit Whipsnake Granaten (mit Abreißzünder - im Gegensatz zu
den in der Realität verwendeten Luntenzündern) umzugehen. Gegen
Ende der Geschichte - quasi als Upgrade - wird der AD52 eingeführt.
Der Automatic Dealer kann 52 rasiermesserscharfe Karten pro Sekunde verschießen.
Reisen kann man durch das Crystal Continuum, in welches man durch Spiegel
gelangt.
Schließlich gibt es noch die Imagination; wer darüber verfügt,
kann die "Realität" durch bloßes Denken seiner eigenen
Vorstellung anpassen, ob er nun Waffen unbrauchbar macht, Soldaten erschafft
oder gleich Dinge explodieren läßt. Zwar wird zwischen White
und Black Imagination getrennt, doch es scheint, als würden beide
die gleichen Effekte hervorbringen können - nur daß die Black
Imagination anders als die White Imagination ihre Kraft aus negativen
Gefühlen zieht.
Es gibt einige Figuren, von denen die Wonderlander sehr flache Exzentriker
und die Londoner ein wenig zentrischer und runder sind. Im Zentrum steht
die Anfangs junge Alyss Heart, die irgendwann die Königin von Wonderland
werden soll. Sie ist verspielt, erfinderisch und verliebt - in Dodge Anderson.
Als es sie nach London verschlägt, lernt sie Demut und Mitleid, sie
wandelt sich von Alyss zu Alice. Es stellt sich die Frage, ob sie die
neue Kriegerkönigin sein kann. Hatter Madigan ist der beste Kämpfer
der Millinery, einer semimilitärischen Organisation, und mit dem
Schutz der Königin beauftragt. Leise klingt an, daß er einmal
ein Privatleben hatte. Dodge Anderson ist zwei Jahre älter als Alyss
und liebt diese ebenfalls. Doch er ist ein Gemeiner, daher wäre eine
Verbindung unpassend. Er bewundert seinen Vater sehr und will wie dieser
ein guter Soldat werden - nach seines Vaters Ermordung jedoch steigert
er sich in einen selbstmörderischen Haß auf dessen Mörder
- The Cat - hinein. The Cat ist die rechte Hand von Redd; er ist ein sadistischer
und grausamer Assassine mit der Gestalt einer menschenartigen Katze. Er
ist sehr besorgt um seine Stellung, denn der dicke Jack of Diamonds, der
einst ein verzogener Knabe im Alter von Alyss und ihr angehender Bräutigam
war, spielt ein doppeltes Spiel: Einerseits will er seinen Einfluß
bei Redd erhöhen, andererseits will er Geschäfte mit den Rebellen
machen. Redd schließlich macht den Eindruck eines geisteskranken
Tyrannen. Sie ist grausam und korruptionsfördernd aus Prinzip, sie
ist jähzornig, impulsiv und ein wenig paranoid. Daneben treten noch
weitere Wonderlander, wie General Doppelgänger, der sich in General
Doppel und General Gänger spalten kann (und zur Verwunderung der
Betrachter dieses auch immer wieder tut), Bibwit Harte, der Lehrer von
Alyss und Homburg Molly, eine junge Rebellin, und Londoner, wie Quigly
Gaffer, ein Waisenjunge, der auf der Straße lebt, die Familie Liddell,
die Alice adoptiert, Charles Dodgeson (= Lewis Carroll), der Alyss gegenüber
sehr grausam ist (was eine Anspielung auf den vermutlich haltlosen Pädophilievorwurf
sein mag), und Prinz Leopold, der sich in Alice verliebt.
Um die Figur Alyss werden drei verschiedene Plots entwickelt. Da ist zunächst
ihre charakterliche Entwicklung; von dem siebenjährigen Mädchen
hin zur zwanzigjährigen Kriegerkönigin. Dieser Plot tritt im
Laufe der Geschichte immer weiter in den Hintergrund, verschwindet aber
nicht völlig. Dann gibt es eine Liebesgeschichte zwischen Alyss und
Dodge, die allerdings nur knapp angerissen wird. Der dritte und entwickeltste
Plot läßt sich grob als Epic Fantasy mit starken Hang zur Action
beschreiben. Dieser Plot ist zwar nicht originell, sonst aber halbwegs
gelungen. Spannung soll aus vielen Quellen entstehen: aus den verschiedenen
Charakteren, den bedrohlichen Situationen und den Wundern des Wonderlands,
doch nur bei den bedrohliche Situationen gelingt dieses mäßig,
da die Figuren nicht entwickelt genug sind, um Plots zu tragen und die
Wunder viel zu beiläufig beschrieben werden.
Erzählt wird die Geschichte aus der personalen Perspektive der sechs
Hauptfiguren, ebenso viele Erzählstränge werden verfolgt, wenngleich
sie nicht alle gleichviel Raum einnehmen. Der Handlungsaufbau entwickelt
sich progressiv und dramatisch, obgleich es größere zeitliche
Sprünge gibt.
Die Stilhaltung ist empathisch, die Sätze und Wortwahl erinnern teilweise
an Comics, da u.a. vielfach Lautsprache - "Dink! Clank! Pong!"
- verwendet wird.
Alyss im Wonderland-Level: Die Struktur erinnert häufig an Computerspiele.
Die Waffenauswahl - Schwert, Pistole, Handgranate und Maschinenpistole
- könnte aus einen Ego-Shooter stammen, die Kartensoldaten werden
sukzessive gefährlicher - es scheint als würden die Dinge "geboosted"
werden. Beim Lesen hatte ich den Eindruck, als wenn die Dinge keine Tiefe,
sondern nur eine bunte Oberfläche hätten. Die Gewalt paßt
dazu - es scheint, als würden die besiegten (gesichtslosen und roboterhaften)
Feinde sich nach dem Tod auflösen. Sieht man von den Hauptfiguren
und anderen Helden ab, so blutet oder leidet kein Kombattant (aber auch
die bluten und leiden nur wenig).
Alyss vs Alice: Beddor wollte die verdreht und unsinnige Geschichte von
Alice richtigstellen. Er hat viele Elemente aus Lewis Carrolls Alice's
Adventures in Wonderland, bzw. Through
The Looking Glass übernommen und z.T. leicht verfremdet.
Aus der ambivalenten Wasserpfeife rauchenden Raupe, die nichts für
gegeben hält und Alice nur zögerlich schwerverständliche
Hilfestellung leistet, wird ein kiffender Prophet, der sich zwar nicht
erklärt, aber schnell eindeutige Ratschläge gibt - "Duh!"
(S. 285). Hatter Madigan ist natürlich der verrückte Hutmacher,
Bibwit Harte ist der White Rabbit, The Cat die Cheshire Cat, General Doppelgänger
die Brüder Tweedledum und Tweedledee usw. Aus den skurrilen und spannenden
Figuren werden Klischeekrieger, die nur noch äußerlich Ähnlichkeit
mit Carrolls Figuren haben. Wo Carrolls Geschichte durch Sprachwitz und
logischen Nonsense besticht, liefert Beddor eine flache Action-Geschichte
ohne Tiefgang in Comic-Sprache.
(rezensiert von: Theophagos)
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