Worum's geht:
Der exzentrische Forscher Dr. Raymond hat seinen Bekannten Mr. Clarke
eingeladen, um an einem bahnbrechenden Experiment teilzunehmen. Der Forscher
behauptet, daß die Welt, wie sie den Menschen erscheint, nicht mehr
als bloßer Schein ist, seine Forschungen ihm aber den Weg gewiesen
hätten, den Schleier zu lüften und die Wahrheit zu schauen;
nur ein kleiner operativer Eingriff ins Gehirn des Menschen ist nötig.
Das Gossenkind Mary, welches der gute Arzt aufzog, soll das menschliche
Versuchskaninchen werden. Mr. Clarke äußert nur schwachen Protest,
ahnt er doch, daß etwas schief gehen könnte...
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Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Das Geschehen trägt sich im "realen" England des späten
19. Jahrhunderts zu, weite Teile in den unterschiedlichen Vierteln Londons,
ein wenig in dem Dorf Caermaen im walisischen Grenzland. Auch wenn Sitten
und Gebräuche Englands nicht weiter thematisiert werden, sondern
nur dezent im Hintergrund stehen, beeinflussen sie doch fest das Handeln
der Figuren. In manchen Szenen kommt ein leichtes Gefühl der Urbanität
auf.
Das phantastische Element ist nicht leicht zu beschreiben, denn der Leser
kann nur darauf schließen, er sieht es niemals selber. Es ist die
Wahrheit hinter dem Schleier und die Dinge, die dort existieren (wenn
man dazwischen trennen kann). Menschen, die Kontakt dazu hatten, beschreiben
diese oftmals als Satyren oder Faune mit Ausdrücken von entsetzlicher
Bosheit. Die antiken Griechen sagten, man habe den großen Gott Pan
geschaut. Wahnsinn, unbändiger Zorn und tiefste Verzweiflung sind
die Folgen. Dann tritt noch eine Frau auf, Helen V., die scheinbar einen
engen Kontakt zur anderen Seite hat. Die Phantastik ist nur sehr schwer
einzuordnen - irgendwo zwischen Science Fiction, Fantasy und Horror -
"Old Weird" könnte man sagen und tatsächlich gehörten
Machens phantastische Werke auch zu den Vorbildern Lovecrafts,
die Nähe zu Das Grauen von Dunwich ist deutlich spürbar.
Es gibt gleich eine ganze Reihe von Plot-relevanten Figuren. Alle werden
zwar nur kurz skizziert, aber es gelingt Machen schnell, ihnen Glaubwürdigkeit
und Lebendigkeit einzuhauchen. Leider ähneln sich die Londoner Herren
mitunter zu sehr. Da ist Dr. Raymond, ein ehrgeiziger Wissenschaftler,
dessen Erkenntnisdrang stärker als sein moralisches Empfinden ist.
Mr. Clarke, ein fest auf dem Boden der Tatsachen stehender, sehr nüchterner
Geschäftsmann, der heimlich seiner Lust am Obskuren und Unglaubwürdigen
frönt. Und schließlich Mr. Villiers und Mr. Austin, zwei voyeuristische
Londoner Gentlemen mit einem Hang zum Phantastischem - doch Villiers ist
deutlich moralischer und willensstärker. Er ist am ehesten die Hauptfigur.
Daneben treten noch etliche weitere Figuren auf, die zumeist einen Plotpunkt
zu machen haben oder für eine angemessenen Kulisse sorgen.
Die Geschichte ist sehr verzwickt; es geht um menschliche Hybris. Den
Glauben, das, was man aus dem Dunkeln herausstochert, auch kontrollieren
zu können. Das Ergebnis ist eine Art Monster - einerseits eine schöne
Frau, andererseits die Nemesis des Menschen/Mannes. Thema ist die Neugierde
- sie schafft das Problem und führt z.T. zu einer Lösung. Wissensdurst
bewirkt Gutes, so die Moral der Geschichte, wenn er von der Moral gelenkt
wird.
Die Erzählform ist ebenfalls recht ungewöhnlich. Mosaiksteinartig
setzt sich die Geschichte zusammen - Mr. Clarke erfährt ein wenig,
Mr. Villiers ermittelt und sieht viel, Dr. Raymond trägt ein paar
Spekulationen dazu bei. Mal sind die Protagonisten alleine unterwegs,
mal tauschen sie sich aus, mal sind sie Augenzeuge, mal hören sie
eine Geschichte oder lesen einen Brief - der Leser muß all diese
Fragmente selbst zusammenpuzzeln, was keine leichte Aufgabe ist. Unternimmt
der Leser keine Anstrengung, so bleibt dieses eine wirre, von vielen Zufällen
geprägte, eher unspektakuläre Geschichte. Macht man sich aber
die Mühe, so kann man erkennen, was sich hinter dem Schleier verbirgt.
Dieses ist eine Geschichte, die dem Leser viel Phantasie abverlangt, statt
ihm ein phantasievolles Gemälde zu präsentieren.
Die Sätze sind zwar relativ lang, aber dennoch elegant und flüssig.
Die Wortwahl ist immer stimmig. Die Dialoge sind natürlich und enthalten
z.T. ein wenig Humor.
(rezensiert von: Theophagos)
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