Bibliotheka Phantastika verleihtSterne:
Das Geschehen findet fast beständig im Meer oder an der Küste,
von Dänemark über Grönland ins Mittelmeer nach Dalmatien
des "realen" Europas im beginnenden 14. Jahrhundert statt, doch
nur Dänemark und Teile Dalmatiens werden näher beschrieben.
Da eine ganze Reihe von unterschiedlichen Kulturen (Dänen/Norweger,
Inuit und die Slawen Dalmatiens) vorgestellt werden und es immer wieder
zur Kontrastierung von Heidentum und Christentum kommt, bleibt das milieuartige
Setting eher an der Oberfläche, zumal diesem nur begrenzt viel Raum
gewährt wird. Doch der Autor bemüht sich die Figuren stimmig
in den historischen Kontext einzubetten.
Die Unterseewelt wird leider nur im ersten Teil etwas ausführlicher
dargestellt.
Magische Elemente gibt es einige, die auch eine größere Rolle
spielen. Im Zentrum steht natürlich das Seevolk. Diese Feenwesen
sehen Menschen zwar sehr ähnlich - sie haben nur größere
Füße und Hände, jeweils mit Schwimmhäuten versehen,
wie sie auch blaues oder grünes Haar haben können - unterscheiden
sie sich von den Sterblichen doch sehr, denn im Gegensatz zu diesen haben
sie keine Seele. Sie altern nicht, aber wenn sie sterben, dann vergehen
sie ohne etwas zu hinterlassen; es gibt für sie keine Nachwelt. Auch
ist ihre Moral eine anderen: Sexualität wird frei (und häufig)
ausgelebt, es gibt keine Ehe und kein Inzest-Tabu; ihre Vorliebe für
die Nacktheit befremdet die prüden Christen zusätzlich.
Doch daneben gibt es noch einige weitere Wesen aus der europäischen
Sagen- und Mythenwelt: es gibt den Selkie, eine Mischung aus Mensch und
Seehund; den Tupilak, eine unheilige, mörderische Kreatur und die
Vilja, der verführerische Geist einer Selbstmörderin. Auch das
Christentum hat seine Wunder, die sich an Legenden des Mittelalters orientieren:
Dessen Rituale können z.B. das Feenreich vertreiben.
Vielfach orientiert sich Anderson an dem dänischen Sagenstoff, so
verarbeitet er die Geschichte um die schöne Agnete, die sich in einen
Wassermann verliebt, mit ihm unter das Meer geht und sieben Jungen gebiert,
schließlich aber an Land und zur Christenheit zurückkehrt.
Das Kernthema ist das "Thinning" - das Schwinden des Zaubers
aus der Welt, hier gebunden an das Heidentum - und wie der "Aberglaube"
durch Rationalität ersetzt wird. Da allerdings die Auseinandersetzung
eher oberflächlich bleibt, das Christentum generell in einem negativen
und das Heidentum in einem positiven Kontext steht und das Wunder der
Seele nicht weiter erläutert wird, bietet die Geschichte in dieser
Hinsicht nicht sonderlich viel Stoff zum Nachdenken an.
Es treten relativ viele Figuren auf, die zwar rund sind, aber eine ausgeprägte
Stoßrichtung haben. Im Zentrum stehen die fünf Protagonisten.
Da ist zunächst Vanimen, der König des Seevolks von Liri. Er
ist groß und muskulös, ein gewaltiger Jäger, der in seiner
Jugend weit umherstreifte und im Alter über eine reiche Erfahrung
verfügt. Er ist verantwortungsbewußt und handelt daher vielfach
zögerlich und vorsichtig, ist aber auch bereit viel zu riskieren,
wenn es der Sache dient. Seine Kinder, die Geschwister Tauno und Eyjan,
sind ebenfalls großgewachsen und schön anzusehen. Da ihre Mutter
Agnete eine Sterbliche war, können sie sich etwas freier unter den
Menschen bewegen. Tauno, der Ältere, übernimmt wie sein Vater
die Verantwortung und die Entscheidungsgewalt. Eyjan fällt durch
ihre sehr stark ausgelebte Sexualität auf. Beide sind zwei Sterblichen,
die ihnen weit helfen, sehr zugetan: Ingeborg und Niels. Stockfisch-Ingeborg
ist nach dem Tod ihres Mannes in die Prostitution gerutscht und verliebt
sich schließlich in Tauno. Sie ist eine sehr empathische Frau. Niels
ist ein junger und anständiger Seemann, der sich in die rothaarige
Eyjan verliebt. Er ist ein kluger Kopf, wenn auch etwas unerfahren. Da
der Autor die psychologische Ebene vielfach nur anreißt, sind manche
Entwicklungen nur schwer nachvollziehbar.
Weiter gibt es noch etliche Figuren aus dem Seevolk, wie Meiiva, die besondere
Freundin Vanimens; Raxi, die sexuell aktivste, oder Yria, die Schwester
Taunos und Eyjans, die sich an Land taufen läßt und so zur
Sterblichen Margrete wird, aber auch Menschen, wie die verkommene Besatzung
der Herning, die den Geschwistern "hilft" bei der Suche
nach Gold für Margrete, den offenen und freundlichen Inuit Minik
und seinen Stamm, den stolzen und fremdenfeindlichen Norweger Haakon und
seine Untertanen oder den pragmatischen, doch nicht prinzipienlosen Vater
Tomislav und seine dalmatische Gemeinde, neben Feenwesen, wie den mysteriösen
Selkie Hauau oder die verführerische Vilja Nada. Viele dieser Figuren
sind durchaus ambivalent gestaltet und begehen manch' grausame Tat aus
Liebe und manch' hilfreiche Handlung aus Eigennutz - vielfach sind gerade
die Nebenfiguren besonders interessant.
Die Handlung folg zunächst zwei, später drei Plotsträngen.
Nach der Zerstörung Liris macht sich das Seevolk unter König
Vanimen auf eine neue Heimat zu finden. Einer Odyssee gleich irren sie
durch die See. Viel Raum wird dieser Reisegeschichte allerdings nicht
gewährt. Der Hauptstrang entwickelt sich um die Kinder Vanimens;
Yria wird zu Margrete und ihre Geschwister wollen ihr ein freies Leben
unter Menschen ermöglichen. Dazu müssen sie Gold bergen - Ingeborg
und die Mannschaft der Herning, zu der auch Niels gehört,
werden dazu benötigt. Später teilt sich dieser Strang auf. Während
die Geschwister ihr Volk suchen, versuchen die menschlichen Verbündeten
den illegal erworbenen Schatz in legalen Besitz umzuwandeln. Sobald die
Geschwister involviert sind, nimmt der Strang viel Platz ein und wird
immer wieder von Abenteuern durchzogen, sind die Menschen alleine, kommt
ihnen nicht viel Geltung zu und die Sprünge der Handlung beim Tricksen
und Feilschen werden sehr groß. Spannung entsteht zumeist aus den
überraschenden Wendungen und bedrohlichen Situationen, ein wenig
(trotz der fehlenden Psychologie) aus den Charakteren; allerdings kommt
der Strang um die Sterblichen zu kurz, um Spannung aufbauen zu können.
Die Handlung ist progressiv, episodisch und - entsprechend des Kernthemas
- desillusionierend.
Die Stilhaltung ist neutral, wobei Wortwahl und Satzduktus schwanken:
Mal wirkt es spröde und distanziert mit subtilen Charakterisierungen,
mal sind die Beschreibungen etwas überzogen und überdeutlich,
so daß es zuweilen ein wenig plump und ungelenk wirkt - meistenteils
sind sie jedoch unauffällig.
Bedenklich sind Frauenbild und die Darstellung von Vergewaltigung.
Frauen werden im Laufe der Geschichte immer stärker auf die Sexualität
und besonders die Ehefrauen-/Mutterrolle reduziert. War Ingeborg zu Beginn
noch eine erfahrene Unterhändlerin und Eyjan eine starke Jägerin,
so definieren sie sich später nur noch über ihre Beziehungen
zu Männern, besonders zu Tauno. Die einzige unabhängige Frau
ist die Priorin, bei der Margrete eine Zeitlang untergebracht wird - und
diese wird in einem sehr schlechten Lichte dargestellt, wie das Klosterleben
(und vor allem die damit verbundene Keuschheit) als nicht lebenswert beschrieben
werden.
In der Episode um den Schatz wollen einige Mitglieder Eyjan vergewaltigen,
doch sie wehrt sich voller Zorn dagegen, ihre Brüder springen ihr
sofort bei und riskieren einen Kampf auf Leben und Tod. Später will
ein anderer Mann Eyjan vergewaltigen, wagt es aber nicht. Eyjan bedauert
es halb, daß er es nicht tat und Tauno hätte es auch nicht
viel ausgemacht. Während in der Kurzgeschichte (s. U.) Vergewaltigung
noch etwas Abstoßendes war, wird sie in der Überarbeitung zu
bloßem Sex mit fremden Männern - und da Eyjan (und Ingeborg)
davon sehr viel haben, ist eine Vergewaltigung für sie belanglos.
Ursprünglich hatte Anderson zwei Kurzgeschichten um die Geschwister
geschrieben: Die
Kinder des Wassermanns und Der Tupilak. Später überarbeitete
er beide Geschichten, fügte einige Episoden und Handlungsstränge
hinzu, um daraus die vorliegende Geschichte zu schaffen.
(rezensiert von: Theophagos)
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