Worum's geht:
Mr. Eckmann, trotz seines deutschen Namens Engländer,
ist ein einsamer Mann. Körperlich mißgestaltet ist er oft dem
Spott seiner Mitmenschen ausgesetzt. Freunde hat er keine und nur sehr
wenige flüchtige Bekannte. Aber er besitzt eine außerordentliche
Begabung: Er kann für das bloße Auge kaum sichtbare Skulpturen
herstellen. Man benötigt ein Mikroskop, um das Tadsch Mahal, das
er aus einem Sandkorn "geschnitzt" hat, das aus einem Zuckerkristall
gearbeitete Walroß und all die anderen Kleinstkunstwerke zu betrachten.
All diese Miniaturen stellt er in seinem Museum aus. Mr. Eckmann ist in
Liebe zu der Tänzerin Poppea entbrannt. Aufgrund seines Äußeren
und, da er den unbefangenen Umgang mit Menschen nicht gewohnt ist, seines
manchmal seltsamen Benehmens, hat er bei der Schönen keine Chance.
Außerdem ist die Ballerina mit einem anderen Mann befreundet.
Während des Sommers verdient Poppea ihr Geld,
indem sie, an einem von Touristen viel besuchten Platz, als Statue arbeitet:
Das Gesicht silbrig geschminkt, mit einem Tüllröckchen angetan,
steht sie auf einem Podest, das von den Passanten zum Schein mit einem
Schlüssel aufgezogen werden muß. Sobald ein bißchen Geld
in den Kasten fällt, beginnt Musik zu spielen und Poppea tanzt. Ist
die Melodie zu Ende, wird sie wieder zur Statue. Mr. Eckmann ist von der
anmutigen Tänzerin bezaubert und bietet ihr an, in seinem Museum
auszuhelfen. Da er bald merkt, daß er all seine Hoffnungen auf Erwiderung
seiner Liebe begraben muß, bittet er Poppea, ihm Modell zu sitzen.
So kann er ihr Abbild wenigstens in einer Glaskugel verewigen. Poppea
verspricht ihm, zu kommen und hält einige Sitzungen durch, aber dann
ist sie plötzlich verschwunden. Und die Tänzerin ist nicht die
Einzige, die in der kleinen englischen Stadt von einem Tag auf den anderen
verschwindet
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Bibliotheka Phantastika verleiht Sterne:
Zwei Freunde treffen sich zufällig auf der Straße. Sagt der
Eine zum Anderen: "Du, ich habe ein Manuskript bei mir. Nimm es mit
nach Hause, lies es und dann sage mir bei Gelegenheit, wer es geschrieben
hat." Der Mann tut, wie ihm geheißen, besucht seinen Freund
zwei Wochen später und verkündet stolz: "Das ist einfach.
Zwar hast du versucht, mich aufs Glatteis zu führen, indem du ein
paar Angaben hineingeschmuggelt hast, die nicht hineingehören, z.B.
daß die Geschichte in England spielt oder du hast moderne Gebrauchsgegenstände
erwähnt wie "Computerchips" und ähnliches, aber dieser
Roman ist ganz offensichtlich von E.T.A Hoffmann." Sein Gegenüber
grinst und schüttelt den Kopf. "Nein?", fragt der Freund
skeptisch. Doch dann geht ihm ein Licht auf: "Du hast das Manuskript
selbst geschrieben. Du hast dir Hoffmanns Erzählung Der Sandmann
vorgenommen, die Geschichte hier ein bißchen umgeschrieben, da ein
bißchen modernisiert et voilá - eine neue Version der alten
Erzählung kreiert." "Nein", erwidert der andere: Die
Geschichte ist ein Roman, er trägt den Titel Das Mädchen
in der Glaskugel und der Verfasser heißt Alex Shearer!"
Daraufhin schaut ihn sein Freund verärgert an und sagt ungehalten:
"Weißt Du, ver
kann ich mich alleine, die Geschichte ist
eindeutig von Hoffmann" und verläßt beleidigt die Wohnung.
Diese Episode ist natürlich erfunden, aber es ist nicht ausgeschlossen,
daß sie sich so oder so ähnlich irgendwo zugetragen hat. Allzu
offensichtlich springen dem Leser Ähnlichkeiten mit Hoffmanns Erzählungen
ins Auge. Shearer versucht, von dieser Tatsache abzulenken, indem er die
Geschichte Eckmanns und Poppeas in eine Rahmenhandlung bettet, die in
einer betont modernen und saloppen Sprache geschrieben ist, so daß
wohl kaum jemand auf die Idee käme, diese auf irgendeine Weise mit
dem 19. Jahrhundert in Verbindung zu bringen. Aber die Binnenhandlung
läßt nicht den geringsten Zweifel daran, welche Quellen Alex
Shearer inspiriert haben. Der Name der englischen (!) Hauptperson ist
nicht gerade weit von Hoffmann entfernt und wenn man, da man auf jeder
Seite auf Mr. Eckmann und indirekt auf den guten Ernst Theodor Amadeus
stößt, auch noch beständig an dessen Erzählung Des
Vetters Eckfenster denken muß, die einem offensichtlich so guten
Hoffmannkenner wie Shearer wahrscheinlich nicht unbekannt ist, dann hat
man den schönen Namen Eckmann, selbst, wenn man dafür einen
schweren Anfall von Überinterpretation in Kauf nehmen muß ;).
Eckmann ähnelt von seiner Statur her ein wenig Klein Zaches, ist
aber eindeutig dem Alchemisten Coppelius aus Der Sandmann nachempfunden.
Coppelius versucht, Metall zum Leben zu erwecken, und Menschen zu erschaffen.
Damit maßt er sich an, Gott zu spielen. Auch Eckmann ist nicht nur
bildender Künstler, sondern außerdem Mechaniker, der versucht,
in seine Skulpturen einen Mechanismus einzubauen, der sie nicht nur gleichförmige,
stets wiederholbare Bewegungen ausführen läßt. Eckmanns
Ziel ist es, sie dazu zu bringen, sich auf natürliche, individuelle
Weise zu bewegen. Besonders Poppeas Abbild soll eine möglichst naturgetreue
Kopie sein, mit den anmutigen, fließenden Bewegungen des Originals.
Auch Eckmann ist von der Idee besessen, die Beschränktheit der toten
Materie zu überwinden und ihr Leben einzuhauchen, und wie Coppelius
gerät er in eine gottgleiche Position, was der Leser übrigens
auch dann gemerkt hätte, wenn Shearer nicht so penetrant darauf hinweisen
würde, daß sich der Leser doch bitte mal Gedanken darüber
machen soll, ob Eckmann sich wie Gott oder Gott sich wie Eckmann verhält,
und wenn er zu einem Schluß gekommen ist, möge er doch auch
noch überlegen, welches Verhältnis dann zwischen einem solchen
Gott und den Menschen besteht. Diese aufdringlichen Hinweise Shearers,
daß er den Roman nicht nur als einfache Unterhaltung, sondern als
Parabel verstanden haben möchte, nerven letztendlich.
Zurück zu den Parallelen zu E.T.A Hoffmann. Wie Nathanael unter Coppelius
muß auch hier ein Junge (Christopher) unter den Machenschaften des
modernen Alchemisten Eckmann leiden. Und mit Poppea haben wir eine Figur
wie Olimpia, bei der die Grenze zwischen Automat und lebloser Puppe und
Mensch auf gewisse Weise verwischt wird. Schließlich spielt in beiden
Geschichten ein Physikprofessor eine Rolle.
Die Sprache der Binnenhandlung ist nicht mehr so aufgesetzt modern wie
die der Rahmenhandlung, sie wirkt auch keineswegs altmodisch, aber dennoch
hat man stets das Gefühl, die Handlung spiele im 19.Jahrhundert und
wenn moderne Begriffe auftauchen und zeitgenössische Gegebenheiten,
dann wirken sie anachronistisch, als gehörten sie nicht wirklich
in diesen Roman, sondern seien nur aus einem Grund hineingesetzt worden
- um den Leser immer wieder daran zu erinnern, daß er sich in einer
Geschichte "von heute" befindet. Diese Taktik funktioniert aber
nicht. Hoffmann ist trotzdem stets präsent und lugt zwischen den
Zeilen hervor.
Das Mädchen in der Glaskugel ist nicht so platt abgekupfert,
daß man eine flammende Philippika halten und den Roman in Bausch
und Bogen verdammen müßte, andererseits ist er aber auch nicht
so eigenständig und originell, daß man ihn als herausragende
Adaption, gelungene Reminiszenz oder Hommage an Hoffmann loben könnte.
Warum also sollte man diesen Roman lesen? Weil Eckmann keine eindimensionale
Figur ist. Er ist Täter, weil er von seinen Ideen und seiner Liebe
besessen ist, aber er ist auch Opfer, Opfer der Umstände, Opfer seiner
Mitmenschen und seiner Leidenschaften. Er hat ein Gewissen und versucht,
seine Schuld zu sühnen, aber er hat auch immer wieder Anfälle
von Boshaftigkeit. Kurzum, er ist ein Mensch und handelt menschlich. Interessant
ist auch seine Beziehung zu dem Jungen Christopher, dessen Unglück
er verschuldet, dem er aber auch eine ausgezeichnete Ausbildung ermöglicht
und den er finanziell absichert.
Mr. Eckmann ist ein schillernder Charakter und es wäre schade, seine
Bekanntschaft zu meiden, nur weil er nicht der alleinigen Phantasie Alex
Shearers entsprungen ist. Und solange man Mr. Eckmann zwischen zwei Buchdeckeln
begegnet und nicht in einer gewissen englischen Kleinstadt, ist dies auch
völlig ungefährlich
(rezensiert von: Top
Dollar)
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