DAS MÄDCHEN IN DER GLASKUGEL

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Wertung: 4 von 5
1 Rezension
-Die meisten dieser Senkrechtstarter packen's einfach nicht.-
Christopher
Zyklus/Band -
Autor Alex Shearer
Original The Speed of the Dark
Erscheinungsjahr 2003, dt. 2006
Verlag Arena
ISBN 3-401-05689-1
Subgenre Kinder- und Jugendbücher, Phantastik
Seitenzahl 324
Probekapitel -
Worum's geht:
Mr. Eckmann, trotz seines deutschen Namens Engländer, ist ein einsamer Mann. Körperlich mißgestaltet ist er oft dem Spott seiner Mitmenschen ausgesetzt. Freunde hat er keine und nur sehr wenige flüchtige Bekannte. Aber er besitzt eine außerordentliche Begabung: Er kann für das bloße Auge kaum sichtbare Skulpturen herstellen. Man benötigt ein Mikroskop, um das Tadsch Mahal, das er aus einem Sandkorn "geschnitzt" hat, das aus einem Zuckerkristall gearbeitete Walroß und all die anderen Kleinstkunstwerke zu betrachten. All diese Miniaturen stellt er in seinem Museum aus. Mr. Eckmann ist in Liebe zu der Tänzerin Poppea entbrannt. Aufgrund seines Äußeren und, da er den unbefangenen Umgang mit Menschen nicht gewohnt ist, seines manchmal seltsamen Benehmens, hat er bei der Schönen keine Chance. Außerdem ist die Ballerina mit einem anderen Mann befreundet.
Während des Sommers verdient Poppea ihr Geld, indem sie, an einem von Touristen viel besuchten Platz, als Statue arbeitet: Das Gesicht silbrig geschminkt, mit einem Tüllröckchen angetan, steht sie auf einem Podest, das von den Passanten zum Schein mit einem Schlüssel aufgezogen werden muß. Sobald ein bißchen Geld in den Kasten fällt, beginnt Musik zu spielen und Poppea tanzt. Ist die Melodie zu Ende, wird sie wieder zur Statue. Mr. Eckmann ist von der anmutigen Tänzerin bezaubert und bietet ihr an, in seinem Museum auszuhelfen. Da er bald merkt, daß er all seine Hoffnungen auf Erwiderung seiner Liebe begraben muß, bittet er Poppea, ihm Modell zu sitzen. So kann er ihr Abbild wenigstens in einer Glaskugel verewigen. Poppea verspricht ihm, zu kommen und hält einige Sitzungen durch, aber dann ist sie plötzlich verschwunden. Und die Tänzerin ist nicht die Einzige, die in der kleinen englischen Stadt von einem Tag auf den anderen verschwindet…

Bibliotheka Phantastika verleihtSterne:
Zwei Freunde treffen sich zufällig auf der Straße. Sagt der Eine zum Anderen: "Du, ich habe ein Manuskript bei mir. Nimm es mit nach Hause, lies es und dann sage mir bei Gelegenheit, wer es geschrieben hat." Der Mann tut, wie ihm geheißen, besucht seinen Freund zwei Wochen später und verkündet stolz: "Das ist einfach. Zwar hast du versucht, mich aufs Glatteis zu führen, indem du ein paar Angaben hineingeschmuggelt hast, die nicht hineingehören, z.B. daß die Geschichte in England spielt oder du hast moderne Gebrauchsgegenstände erwähnt wie "Computerchips" und ähnliches, aber dieser Roman ist ganz offensichtlich von E.T.A Hoffmann." Sein Gegenüber grinst und schüttelt den Kopf. "Nein?", fragt der Freund skeptisch. Doch dann geht ihm ein Licht auf: "Du hast das Manuskript selbst geschrieben. Du hast dir Hoffmanns Erzählung Der Sandmann vorgenommen, die Geschichte hier ein bißchen umgeschrieben, da ein bißchen modernisiert et voilá - eine neue Version der alten Erzählung kreiert." "Nein", erwidert der andere: Die Geschichte ist ein Roman, er trägt den Titel Das Mädchen in der Glaskugel und der Verfasser heißt Alex Shearer!" Daraufhin schaut ihn sein Freund verärgert an und sagt ungehalten: "Weißt Du, ver…kann ich mich alleine, die Geschichte ist eindeutig von Hoffmann" und verläßt beleidigt die Wohnung.
Diese Episode ist natürlich erfunden, aber es ist nicht ausgeschlossen, daß sie sich so oder so ähnlich irgendwo zugetragen hat. Allzu offensichtlich springen dem Leser Ähnlichkeiten mit Hoffmanns Erzählungen ins Auge. Shearer versucht, von dieser Tatsache abzulenken, indem er die Geschichte Eckmanns und Poppeas in eine Rahmenhandlung bettet, die in einer betont modernen und saloppen Sprache geschrieben ist, so daß wohl kaum jemand auf die Idee käme, diese auf irgendeine Weise mit dem 19. Jahrhundert in Verbindung zu bringen. Aber die Binnenhandlung läßt nicht den geringsten Zweifel daran, welche Quellen Alex Shearer inspiriert haben. Der Name der englischen (!) Hauptperson ist nicht gerade weit von Hoffmann entfernt und wenn man, da man auf jeder Seite auf Mr. Eckmann und indirekt auf den guten Ernst Theodor Amadeus stößt, auch noch beständig an dessen Erzählung Des Vetters Eckfenster denken muß, die einem offensichtlich so guten Hoffmannkenner wie Shearer wahrscheinlich nicht unbekannt ist, dann hat man den schönen Namen Eckmann, selbst, wenn man dafür einen schweren Anfall von Überinterpretation in Kauf nehmen muß ;).
Eckmann ähnelt von seiner Statur her ein wenig Klein Zaches, ist aber eindeutig dem Alchemisten Coppelius aus Der Sandmann nachempfunden. Coppelius versucht, Metall zum Leben zu erwecken, und Menschen zu erschaffen. Damit maßt er sich an, Gott zu spielen. Auch Eckmann ist nicht nur bildender Künstler, sondern außerdem Mechaniker, der versucht, in seine Skulpturen einen Mechanismus einzubauen, der sie nicht nur gleichförmige, stets wiederholbare Bewegungen ausführen läßt. Eckmanns Ziel ist es, sie dazu zu bringen, sich auf natürliche, individuelle Weise zu bewegen. Besonders Poppeas Abbild soll eine möglichst naturgetreue Kopie sein, mit den anmutigen, fließenden Bewegungen des Originals. Auch Eckmann ist von der Idee besessen, die Beschränktheit der toten Materie zu überwinden und ihr Leben einzuhauchen, und wie Coppelius gerät er in eine gottgleiche Position, was der Leser übrigens auch dann gemerkt hätte, wenn Shearer nicht so penetrant darauf hinweisen würde, daß sich der Leser doch bitte mal Gedanken darüber machen soll, ob Eckmann sich wie Gott oder Gott sich wie Eckmann verhält, und wenn er zu einem Schluß gekommen ist, möge er doch auch noch überlegen, welches Verhältnis dann zwischen einem solchen Gott und den Menschen besteht. Diese aufdringlichen Hinweise Shearers, daß er den Roman nicht nur als einfache Unterhaltung, sondern als Parabel verstanden haben möchte, nerven letztendlich.
Zurück zu den Parallelen zu E.T.A Hoffmann. Wie Nathanael unter Coppelius muß auch hier ein Junge (Christopher) unter den Machenschaften des modernen Alchemisten Eckmann leiden. Und mit Poppea haben wir eine Figur wie Olimpia, bei der die Grenze zwischen Automat und lebloser Puppe und Mensch auf gewisse Weise verwischt wird. Schließlich spielt in beiden Geschichten ein Physikprofessor eine Rolle.
Die Sprache der Binnenhandlung ist nicht mehr so aufgesetzt modern wie die der Rahmenhandlung, sie wirkt auch keineswegs altmodisch, aber dennoch hat man stets das Gefühl, die Handlung spiele im 19.Jahrhundert und wenn moderne Begriffe auftauchen und zeitgenössische Gegebenheiten, dann wirken sie anachronistisch, als gehörten sie nicht wirklich in diesen Roman, sondern seien nur aus einem Grund hineingesetzt worden - um den Leser immer wieder daran zu erinnern, daß er sich in einer Geschichte "von heute" befindet. Diese Taktik funktioniert aber nicht. Hoffmann ist trotzdem stets präsent und lugt zwischen den Zeilen hervor.
Das Mädchen in der Glaskugel ist nicht so platt abgekupfert, daß man eine flammende Philippika halten und den Roman in Bausch und Bogen verdammen müßte, andererseits ist er aber auch nicht so eigenständig und originell, daß man ihn als herausragende Adaption, gelungene Reminiszenz oder Hommage an Hoffmann loben könnte.
Warum also sollte man diesen Roman lesen? Weil Eckmann keine eindimensionale Figur ist. Er ist Täter, weil er von seinen Ideen und seiner Liebe besessen ist, aber er ist auch Opfer, Opfer der Umstände, Opfer seiner Mitmenschen und seiner Leidenschaften. Er hat ein Gewissen und versucht, seine Schuld zu sühnen, aber er hat auch immer wieder Anfälle von Boshaftigkeit. Kurzum, er ist ein Mensch und handelt menschlich. Interessant ist auch seine Beziehung zu dem Jungen Christopher, dessen Unglück er verschuldet, dem er aber auch eine ausgezeichnete Ausbildung ermöglicht und den er finanziell absichert.
Mr. Eckmann ist ein schillernder Charakter und es wäre schade, seine Bekanntschaft zu meiden, nur weil er nicht der alleinigen Phantasie Alex Shearers entsprungen ist. Und solange man Mr. Eckmann zwischen zwei Buchdeckeln begegnet und nicht in einer gewissen englischen Kleinstadt, ist dies auch völlig ungefährlich…
(rezensiert von: Top Dollar)

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